Laufschuhtest 2012: Wer hat den Flachsten?

von Harald Eggebrecht für tri2b.com | 07.04.2012 um 00:00
Genau zwei Jahre ist es her, als wir zuletzt einen Testblick auf die Lightweight-Trainer und Wettkampfschuhmodelle der großen Laufschuhhersteller geworfen haben. Auch für die Saison 2012 wurde die Schuhindustrie zum tri2b.com-Laufschuhtest eingeladen. Neu dabei: Selbstverständlich werfen wir einen Blick auf die derzeit heiß diskutierten Laufschuhmodelle des sogenannten „Natural-Running-Segments. Von den insgesamt getesteten 24 Modellen kommen 8 aus dem Bereich „natürlicher Laufen“.

Wobei Natural-Running nicht gleich Natural-Running ist – die Interpretation ist seitens der Hersteller sehr unterschiedlich. So gibt es einerseits die Fraktion der sogenannten Null-Sprengungs-Schuhe (Schuhe flach wie eine Flunder; Saucony Hattori, New Balance Minimus, Newline NADA) und Schuhmodelle mit moderaten Sohlenaufbauten (Brooks Pure Connect, Ecco Biom), die eher noch an einen klassischen Laufschuh erinnern, oder aber mit besonderen Sohlenkonstruktionen (z.B. ON-Laufschuhe) den Fuß mehr einbeziehen wollen.

Natural-Running muss sinnvoll eingesetzt werden


Dabei scheint bei den Extrem-Lösungen derzeit das Produktmanagement diverser Hersteller vor allem ein Ziel vor Augen zu haben: Wir wollen den flachsten Schuh bauen, koste es was es wolle. Inwieweit die Schuhe dann wirklich in der Praxis, heißt im Trainingsalltag der Triathleten und Läufer, Verwendung finden können ist auf den ersten Blick zweitrangig. Der Einsatzbereich solcher Schuhe ist stark begrenzt, weiß auch Klaus Ruscher. Der Münchner ist seit 1996 Inhaber des Laufsport-Fachgeschäfts Sport Ruscher und kennt aus seiner aktiven Triathlon-Karriere in den 80iger und 90ger Jahren auch die Historie in der Entwicklung von Laufschuhen. „Immer wieder kommen Läufer und Läuferinnen in den Laden, die sich mit zu leichten Schuhen und unangepasstem Training – z.B. werden 30 km Läufe in Barfußschuhen gelaufen – eine Überlastung zugezogen haben“, schüttelt Klaus Ruscher den Kopf. Dabei können Schuhe aus dem Natural-Running-Segment sehr wohl, zielgerichtet eingesetzt, einen Gewinn für das Lauftraining darstellen. Lauftechnik-Übungen, Laufathletik-Übungen und kürzere mittelschnelle Dauerläufe (45 min. – nach einer gewissen Eingewöhnungszeit) sind Beispiele für Laufeinheiten, in den auch ganz minimalistische Laufschuhe getragen werden können.

 

m klassischen Umfangtraining ist die Verletzungsgefahr hingegen einfach zu hoch, wie auch der in München tätige Physiotherapeut Markus Kling bestätigen kann. „Früher ist man Schuhe, wie beispielsweise den Brooks Beast, mit durchgängiger extrem verstärkter Sohle gelaufen. Und jetzt läuft man mit Neopren- und Fingerschuhen auf Asphalt. Das war und ist sicher beides nicht optimal.“ So muss seiner Ansicht nach als aller erstes die Lauferfahrung des Athleten Beachtung finden. „Der Schuh sollte gemäß dem Bewegungsvermögen des Läufers und dem gewählten Untergrund adäquate Voraussetzungen bieten. Ein Einsteiger, der den Fußaufsatz noch nicht richtig kontrollieren kann, braucht ganz sicher einen stabileren Schuh als ein ambitionierter Athlet, der einen flachen Fußaufsatz hat“, so Kling weiter. Läufern mit noch schlechter Lauftechnik ist deshalb eher anzuraten ihre Fußmuskulatur zuerst mit Übungen auf dem Wackelbrett oder Gym-Bändern zu kräftigen.

Rückblick: Die Entwicklungen im Laufschuhbau und der Analytik


Doch woher kommt es, dass einmal der Trend in diese (Stabil, stark gedämpft) und dann plötzlich in die andere Richtung geht. Eine Erklärung könnte ein Blick in die Geschichte der Laufschuhentwicklung geben. In den 70iger Jahre entsprachen spezielle Laufschuhe – so viele verschiedene gab es noch nicht – eher den gerade wiederkehrenden gemäßigten Natural-Running-Modellen (z.B. Brütting Road Runner). In den 80iger Jahren war dann die große Zeit der Dämpfungs-Revolutionen mit Nike-Air, Asics-Gel, Brooks Hydro-Flow, Avia-Cantilever. 1989 folgte dann mit Adidas-Torsion eine Technik des Laufschuhbaus, dessen Auswirkungen auch heute noch bei vielen klassischen Laufschuhmodellen zu sehen sind – Vor- und Rückfuß sind voneinander entkoppelt, die Stabilisierung übernimmt eine Torsionsplatte. Parallel entwickelte sich auch die Analytik in der Laufschuhberatung. Laufbänder zum Test laufen, Videoaufnahmen – zuerst u.a. via VHS-Rekorder und später, durch die rasante Entwicklung der Digitaltechnik, zur heute üblichen HD-Aufnahme - die mit einer speziellen Software ausgewertet werden können. Allerdings war in dieser Zeit die Analysemöglichkeit der Analysebewertung und –beurteilung voraus. Bewertungen fanden oft nur punktuell (nur der Knick im Sprunggelenk) statt. Schuhe mit stärkeren Pronationsstützen und viel Dämpfungskomfort waren das Mittel der Wahl.

Erfolgsgarant: Die ganzheitliche Sichtweise


Heute weiß man dank diverser Studien, dass eine komplett mit Schuh und Einlagen korrigierte Überpronation nicht zwingend vor Überlastungsproblemen schützt. Sondern vielmehr die Miteinbeziehung der natürlichen Dämpfung des Fußes (Sprunggelenk klappt beim Aufsetzen ein, in der Standphase federt das Längsgewölbe mit, bevor das Quergewölbe den Abdruck unterstützt) die beste Lösung ist. Deutliche orthopädische Auffälligkeiten (starke O-Beine, starker Senkfuß) und die Konstitution des Läufers (leicht oder schwer, trainiert oder untrainiert) sind jedoch zu beachten. Und hier gilt auch im Zeitalter von „Natural Running“: Nicht immer ist der möglichst flache Laufschuh auch der individuell Beste.

 

Testfazit:

 

Das Sortiment der Laufschuhe ist durch das Segment „Natural Running“ noch vielfältiger geworden. Im Bereich der leichten Trainingsschuhe und Wettkampfschuhe geht der Trend zu flacheren und flexibleren Sohlenaufbauten weiter. Bei fast allen Modellen wird mittlerweile zugunsten des Abrollverhaltens auf eine klassische torsionssteife Mittelfußbrücke verzichtet.
Beim Thema Dämpfungskomfort fällt auf, dass selbst sehr leichte Wettkampfschuhe dank weiter entwickelter Materialen sehr angenehm zu laufen sind. Bei der Schuhwahl sollte aber unbedingt der Einsatzbereich und das eigene Leistungsvermögen mit einbezogen werden. Der durchschnittliche Triathlet ist oft jenseits der 40 Jahre und hinsichtlich Muskelelastizität, motorischer Lernfähigkeit und orthopädischen Vorbelastungen nicht mehr mit einem Athleten Mitte 20 zu vergleichen. Eine zu abrupte Umstellung auf flache und wenig Stabilität bietende Schuhmodelle kann deshalb hier mehr Schaden als Nutzen bringen. Deshalb sollten auch komfortable und etwas festere aufgebaute Laufschuhe nicht komplett aus dem Schuhschrank verbannt werden. Man fährt ja auch nicht immer in tiefster Aerohaltung über den Highway.