Anne Haug: Aerodynamik ist im Triathlon ein nach oben offener Prozess

Harald Eggebrecht für tri2b.com | 19.06.2022 um 08:03
Anne Haug will bei der Challenge Roth nichts dem Zufall überlassen. Um für die Titelverteidigung am 3. Juli bestens gewappnet zu sein, ging es für die Bayreutherin im Vorfeld noch einmal in den Windkanal. Zusammen mit ihrem Laufradausrüster DT Swiss, den Aerodynamik-Experten von Swissside und Bikefitter Daniel Schade wurde in Immenstaad am Bodensee noch Finetuning betrieben, nachdem bereits im Vorjahr eine Aerooptimierung am Helm und am Trisuit erfolgreich umgesetzt wurde. Bei ihrem Roth-Sieg im September 2021 fuhr Anne Haug (Siegerzeit: 7:53:48) auf dem verkürzten ca. 168 km langen Radkurs eine 4:14:14. Hochgerechnet auf die 180 km-Originalstrecke (lt. Strava 178,5 km) wäre eine Radzeit um die 4:30 Stunden herausgekommen und der Wellington-Rekord (2011: 8:18:13) hätte wohl der Vergangenheit angehört. Im Interview gibt Anne Haug Einblicke in ihr aktuelles Windkanal-Testing, den aufwendigen Weg zum bestmöglichen Setup für die Praxis und ihre Einstellung zu Rekorden.

tri2b.com: Im Vorjahr wärst du in Roth auf dem Originalkurs mit deiner Siegleistung wohl klar unter dem Wellington-Rekord geblieben. Da in diesen Tagen viel über Rekorde gesprochen wird: Wie groß ist der Reiz in einem fairen echten Rennen sich in die Rekordlisten einzutragen und Triathlon-Geschichte zu schreiben?
Anne Haug (A.H.): Naja, man darf sich von Rekorden und Zeiten im Vorfeld einer Langdistanz nicht verrückt machen lassen. Man kann nur die beste individuelle Performance abrufen, wenn man ganz bei sich bleibt und nicht überzockt. Bei einem so langen Rennen hängt viel von der Tagesform und vielen anderen Faktoren ab. Natürlich ist es schön zu wissen, dass man solche Zeiten im Optimalfall abrufen kann, aber erzwingen kann man es leider nicht.

tri2b.com: Einer der Faktoren ist das Material. Du warst mit deinem Rad-Setup der Ironman WM in St. George nochmals im GST Windkanal in Immenstaad. Was war die Quintessenz?
A.H.: Dass das Arbeiten an der Aerodynamik einfach ein nach oben offener Prozess ist. Zwar werden die Optimierungsmöglichkeiten immer geringer, aber es gibt immer etwas zu verbessern.

tri2b.com: Wo gibt es konkret noch Verbesserungspotenzial?
A.H.: Man kann noch einiges an meiner Körperhaltung und der Kopfposition verbessern.

© DT Swiss AG/Gaudenz Danuser

tri2b.com: Wieviel „Zeit“ lässt du aktuell noch liegen, weil du die bestmögliche (Labor)Aero-Performance nicht fährst?
A.H.: Ziel ist es immer im Labor eine Position zu finden, die sowohl die beste Labor und auch die beste Outdoor-Performance ist. Es nützt ja nichts tolle Werte zu produzieren, die außen nicht umsetzbar sind.

tri2b.com: Wo siehst du derzeit die Grenze bei Einhaltung der Triathlon-Regeln?
A.H.: Innovationen gehören zum Leistungssport dazu, sind spannend und bringen die Sportart nach vorne. Daher finde ich es gut, dass wir im Triathlon kein allzu starres Korsett wie die UCI haben. Aber natürlich sollte der Faktor Mensch immer noch rennentscheidend sein :-)) 

tri2b.com: Aero- und Setuptuning ist immer ein Abwägen zwischen dem theoretisch Machbaren und der Umsetzung in der Praxis. Vertraust du eher den Zahlen oder deinem Gefühl?
A.H.: Das ist immer ein Zusammenspiel von beidem. Im Windkanal werden zwar Zahlen produziert, aber immer mit meinem Gefühl abgeglichen. Wenn ich merke, dass eine Position für mich nicht fahrbar ist, verfolgen wir den Weg auch nicht weiter, egal was die Werte belegen. Dank Daniel Schade, meinem Bikefitter, der diesmal mit im Windkanal war, hatten wir die Möglichkeit direkt nachzujustieren, um Biomechanik und Aerodynamik bestmöglich zusammen zu fügen.

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So läuft der standardisierte Aerotest im GST Windkanal ab:

Zuerst werden nach dem Aufbau auf der Waage einige Testruns vorgenommen, um den Ausgangswert der Messungen zu bestimmen. Hierbei wird der CdA-Wert bestimmt, der den Widerstand im Wind angibt. Die Messung findet bei einem Anströmwinkel von 0° und 10° Yaw mit 45 km/h Wind- und Laufradgeschwindigkeit statt. Das Hinterrad wird von Anne Haug dabei bewegt. Als sehr erfahrene Athletin kann die Ironman Hawaii-Siegerin von 2019 äußerst stabile Werte reproduzieren und somit einen effizienten Ablauf erreichen. Mittels des projizierten Profils auf dem Boden kann Anne Haug die gewählte Position immer wieder einnehmen. Diese Position wird zu Beginn ohne eine optische Orientierung gesucht und gefunden. Positionsänderungen können so immer wieder nachvollzogen werden, wozu jeder Run zudem mit einer Nummer fotografisch dokumentiert wird. Hierzu dient die gute alte Schiefertafel mit Kreide, wie sie auch immer noch bei der Tour de France für die Zeitabstände zum Einsatz kommt – WELCOME TO 21st CENTURY!

© DT Swiss AG/Gaudenz Danuser

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tri2b.com: Durch eine verbesserte Aerodynamik kam man entweder die gleiche Zeit mit weniger Leistung fahren oder eben mit gleicher Leistung noch schneller unterwegs sein. Wohin tendierst du als Athletin, die im Laufen ihre größte Stärke hat?
A.H.: Ich möchte immer in allen drei Triathlon-Disziplinen das bestmögliche herausholen und spare mir sicherlich kein einziges Korn auf.

tri2b.com:
Welche Rolle nimmt hier dein Trainer Dan Lorang ein, der mit dem Thema ja aus dem Radsport bestens vertraut ist.
A.H.: Dan kennt mich so gut, dass er genau weiß, wie ich meine Rennen bestreiten muss. Er bereitet mich seit 15 Jahren bestmöglich auf meine Rennen vor und vertraut dann am Tag X mit mir auf mein Gefühl. Das ist eben meine Art zu racen und unterscheidet sich wahrscheinlich von den meisten anderen. Natürlich sprechen wir vorher das Rennen mal theoretisch durch, aber wenn der Startschuss fällt, brauche ich die Freiheit zu entscheiden, was situativ richtig für mich ist und nicht was irgendwelche Werte mir anzeigen.

tri2b.com: Mit welchem Laufrad-Setup wirst du am 3. Juli in Roth an den Start gehen.
A.H.: Also geplant ist vorne das DT Swiss ARC 1100 Dicut in 62 und hinten die DT Swiss Scheibe.

tri2b.com: Vielen Dank für die Einblicke. Wir wünschen dir eine gute finale Taperphase für Roth.