Long-Jog : Wenn am ersten Tag des Jahres schon mehr als 100 km im Tagebuch stehen

von Sven Weidner für tri2b.com | 07.01.2018 um 20:29
Was macht man an Silvester? Jetzt werden vermutlich 99,9999% sagen man begrüßt das neue Jahr feucht fröhlich. Aber mal ganz im Ernst, irgendwie sind die Silvesterpartys doch ziemlich überbewertet oder der Kater am Tag darauf ist dann doch nicht der beste Start ins neue Jahr. Bei diesem Gedanken ist mir die Geschichte von einem Arbeitskollegen (Till) und guten Freund aus Bielefeld eingefallen, der einmal den doppelten Hermannslauf (Bielefeld – Detmold - Bielefeld) in der Silvesternacht gelaufen ist. Eigentlich schon eine coole Idee, aber ist das in einer amerikanischen Großstadt wie San Francisco die beste Idee??? tri2b.com A|N Teamathlet Sven Weidner berichtet von seinen Erlebnissen beim New Year's One Day - Coastal Trail Runs 24-Stunden-Lauf

Um diese Eingangsfrage zu beantworten habe ich ein wenig recherchiert und einen 24-Stunden-Lauf vom 31.12. auf den 01.01. gefunden. Meine erste Reaktion nach kurzer Recherche: Win, Win, Win, Win & Win. Habe ich hier die eierlegende Wollmilchsau gefunden!? Der Lauf scheint zunächst einmal genau das zu sein, was ich gesucht habe. Darüber hinaus besteht so die Möglichkeit das Bankkonto an Silvester ein bisschen aufzufüllen, anstatt eine Menge Geld für die systematische Vernichtung der Gehirnzellen zu verwenden.

 

Die Golden Gate Bridge und Alcatraz immer im Blickfeld

 

Irgendwo sind die Vorbereitung und natürlich der Lauf auch mal ein ganz neuer Reiz im Training. Dann ist da natürlich noch der Austragungsort zu nennen: eine ca. 1 Meilenrunde um Crissy Field. Das sagt den meisten Leuten jetzt nicht sonderlich viel. Aber man hat wohl in ganz San Francisco keinen besseren Blick auf die Golden Gate Bridge, Alcatraz und Downtown als von dieser kleinen Bucht. Schließlich ist noch das letzte Win zu nennen! Diese Amerikaner und ihre Ultras...da gibt es einfach mal eine total kitschige Gürtelschnalle zu gewinnen. Da war sofort dieser innere „das muss ich haben“-Trieb aktiviert. 

Okay nach einer sehr kurzen und auch nicht so ganz kontinuierlichen Vorbereitung war am Sonntag dann Tag X mit meiner Ultrapremiere gekommen. Also einmal um 7 Uhr morgens mit den Öffis durch die halbe Stadt fahren. Angekommen dann die erste Verunsicherung...Wieso haben alle Leute hier Zelte, Klappstühle und Campingtische aufgebaut? Naja einfach nicht drüber nachdenken und sich aufs eigene Rennen konzentrieren habe ich mir zugesprochen.

Nach dem Start hieß es dann erst einmal, wie mit Till abgesprochen, die Leute vorne Laufen zu lassen und einen eigenen Rhythmus zu finden. Die erste Stunde war dann auch relativ schnell und locker über die Bühne gebracht. Unglücklicherweise ist mir dann mit Blick auf das Leaderboard aufgefallen: Junge du führst rundengleich mit einem anderen Läufer! Der Konkurrent war dann auch schnell ausgemacht, da man die Laufrichtung der 1-Meilenrunde nach jeder vollendeten Runde ändern konnte. Leider war er kurz davor mir eine Runde aufzubrummen. Doch will ich mir das gefallen lassen, wo das aktuelle Tempo doch wirklich eher Dampflok als ICE war? Nach kurzem Überlegen wurde dann von 5:50 auf 5:10 min/km beschleunigt. Irgendwie fühlte sich das auch ziemlich locker an. Also weitermachen und schauen was passiert... 

 

"You´re looking smooth"!!!

 

Nach ca.  90 min. habe ich dann angefangen durch die Verpflegungszone zu gehen und mir Zeit für eine ordentliche Energieversorgung zu nehmen, sodass sich meine Rundenzeiten knapp unter 10 min.  eingependelt hatten. Moment mal: Hatte ich nicht gelesen, dass der Streckenrekordhalter im Schnitt 11:xx min pro Runde gebraucht hat? Ach egal, es fühlt sich ja locker an und ich war ja auch kurz davor mit einer Runde in Führung zu gehen. Irgendwann bin ich dann in einen Nirwana-artigen Zustand gefallen und habe eigentlich keine Ahnung was die folgenden 4 Stunden passiert ist. Auf einmal Stand dann meine Chefin auf der Strecke und hat gerufen „Heeeeey Sven, you’re looking smooth!“. Woraufhin ich gedacht habe: Wollte sie nicht erst um 14 Uhr vorbeikommen? Kurzer Blick auf die Uhr...Verdammt es ist ja schon 15 Uhr :D...

 

Nach 100 km auf Kursrekord, aber dann ...

 

Ich habe die Gehpausen dann genutzt, um mal ein paar Worte sprechen zu können. Ihre Feststellung, dass ja anscheinend keine Konkurrenz für mich am Start sei, hat mich komischerweise das erste Mal überlegen lassen, ob das hier wirklich eine gute Idee war. Trotzdem habe ich erstmal selbstbewusst ihr Angebot mir ein Zelt für die Nacht zu kaufen ausgeschlagen.

Kurz vor 16 Uhr ist sie dann gegangen und ich habe so langsam gemerkt, dass ich nach 7 Stunden Rennzeit schon etwas angeschlagen war. Immerhin war ich knapp 9 km vor dem Zweitplatzierten und 60 min schneller als der Streckenrekord.  Zudem waren es nur noch 24 km zur 100 km-Schnalle. Demnach war das Motto: Augen zu und durch.

Nach 9:21 Stunden war es dann soweit: Neue 100 km Bestzeit. Der erste Gedanke: Eigentlich doch ziemlich easy gewesen...Darüber hinaus noch 16 km vor Platz 2 und fast 2 Stunden unter Kursrekord. Da lächelt man schon mal tief in sich hinein J Gedanklich schon am überlegen, was man denn so alles für Unfug mit 200$ Dollar Preisgeld so anstellen könnte, ging es dann relativ schnell bis zu den vollen 10 Stunden weiter. Unglücklicherweise ist mit der untergehenden Sonne dann aber leider auch meine Leistungsfähigkeit exponentiell untergegangen.

 

... kamen gleich mehrere Männer mit dem ihren Hämmern

 

Dieses Gefühl kannte ich schon so ähnlich vom Inferno Triathlon im August 2017, wenn die Kräfte schwinden und man mit geballter Willenskraft versucht das Tempo irgendwie weiter hoch zu halten. Leider trifft man in solchen Momenten immer die dümmsten Entscheidungen. Denn brauche ich eine Stirnlampe? Ach neeeeeee, da würde ich ja vielleicht was von meinem wertvollen Vorsprung verlieren, da meine Geschwindigkeit kontinuierlich bis auf 5:30 min/km gesunken ist. Tja dann findet man natürlich auch treffsicher die Löcher im Boden. Mit dem Einschlag haben dann im ganzen Körper alle Alarmlichter und –glocken angefangen eine Silvesterdisco zu veranstalten. Man könnte auch sagen der Klassiker: Die erste und größte Silvesterrakete ist gegen 19 Uhr am Crissy Field hochgegangen. Wobei man so ehrlich sein sollte, dass es auch ohne das Erdloch vermutlich nur eine Frage von wenigen Minuten gewesen wäre, bis zum Eintreten des Unvermeidbaren. 

Naja was hilft’s!? Erstmal irgendwie zur Verpflegung und dann setzen, dehnen und regenerieren. Tja dann sitzt man da im Dreck und wünscht sich auch einen Klappstuhl, während man sogar im Sitzen immer weiter ermüdet. Schlau wie ich war habe ich eine Whatsapp-Gruppe mit Freunden eingerichtet, die mir nochmal ordentlich Mut zugesprochen haben. Der emotionale Meltdown: „Hubububububu alles tut so weh...Ich höre jetzt hier auf und gehe mit meinen Arbeitskollegen feiern...“ war allerdings nicht mehr abzuwenden. Irgendwie habe ich mich dann nach einer Stunde aufgerafft und bin humpelnd wieder auf die Strecke gegangen, um meine Führung zu verteidigen. Also mp3-Player in die Ohren (was normalerweise für mich die Unart vor dem Herrn ist beim Laufen) und pushen. Während dieser Zeit hat Till (selber ein extrem guter Ultraläufer) dann auch die richtigen Schrauben gefunden, um meine Moral noch einmal anzuheben. Die Folge war, dass ich wenigstens wieder schnell hiken konnte. Nach stundenlanger Diskussion war Neujahr dann plötzlich auch ganz nah. Also wieder einen Becher Cola greifen (wahrscheinlich so der 50. oder 60. im Rennverlauf) und zum besten Aussichtspunkt auf das Feuerwerk auf dem Embacadero wandern. So habe ich dann in absoluter Ruhe mit einem unglaublich schönen Becher Cola das Jahr 2018 begrüßt. Nach ca. 15-20 min. war dann das Feuerwerk vorbei und ich wollte aufstehen und meine Runden weiterdrehen. Problem: Ich komme nicht hoch!? Okay, massiert und auf die Bank gelegt. Irgendwie ging es dann doch weiter, auch wenn die Geschwindigkeit sich immer weiter  gegen Null angenäherte.

Häufig wird der Ironman ja als emotionale Achterbahn beschrieben. Dann ist Ultramarathon als Steigerung wohl sowas wie festgeklebt auf dem Elektrobullen...ständig wird man hin und her geschleudert, aber Absteigen ist weder eine Option noch eine Möglichkeit :D

Das lange Warten auf die "Finisher-Gürtelschnalle"

 

Während meines philosophischen Ausflugs  hat sich meine Hikegeschwindigkeit (gegen ca. 2 Uhr morgens) der Null erschreckend genähert und ich beschloss mich auf die bekannte Silvesterbank zu setzen, um mich nochmal durchzukneten. Diesmal ist der Erfolg allerdings ausgeblieben. Ich sah wohl so mitleiderregend aus, dass ich mehrfach gefragt wurde, ob ich zurück zum Ziel komme. Naja, die gute Nachricht: Es ist mir tatsächlich irgendwie gelungen zu meiner Tasche im Zielbereich zu kommen.

Dort habe ich dann alles Wärmende angezogen, was ich auf die Schnelle finden konnte und habe mich ganz stilecht mal in den Dreck gelegt. Wenigstens ist das Wetter hier so gut, dass alles trocken ist...Leider hieß es dann noch mehr als 6 Stunden auf dem Boden im Halbschlaf frieren, um die heiß ersehnte Gürtelschnalle abzugreifen. Als es dann endlich soweit war, wurde leider gesagt, dass diese noch in der Produktion sind und in den nächsten Wochen verschickt werden L Epic fail, wie der Amerikaner so schön zu sagen pflegt. 

Wenigstens konnte ich nach der Pause wieder so halbwegs gehen, sodass der Kilometer zur Bushaltestelle halbwegs erträglich war. Zuhause angekommen habe ich dann das Elend ausgepackt und festgestellt, dass ich neben jeder Menge geplatzter Blasen auch mal so eben drei Zehennägel verloren habe. Naja nicht sonderlich cool, aber die Erfahrung fast 140 km mehr oder weniger am Stück bewältigt zu haben war schon extrem cool.  

Nachdem die Schmerzen beim Liegen aufgehört haben, beginnt das Training für neue Abenteuer, sodass ihr bald wieder von mir hören werdet ;)