Auf die italienische Art: Das Wilier Turbine im Praxistest

von Harald Eggebrecht für tri2b.com | 17.05.2019 um 08:51
Turbine hat Wilier Triestina sein im Vorjahr vorgestelltes neues Triathlon-Zeitfahrrad genannt. Der aus der Region Venetien stammende italienische Radhersteller will - vergleichbar dem Wirkungsgrad einer Turbine - mit seinem TT-Bike die Kraft des Fahrers möglichst perfekt in Geschwindigkeit umwandeln. Dass dies nicht nur eine tolle Werbeclaim ist, zeigt eindrucksvoll Woche für Woche Andi Dreitz im Renneinsatz. Der Oberfranke drückt regelmäßig mit seinem Turbine den Rennverläufen auf dem Radkurs den Stempel auf. Wir durften das Wilier Turbine in einem ausgiebigen Praxistest genau unter die Lupe neben und mal so richtig über die Landstraße "dreitzen". Unser Fahrbericht ...

Das Wilier Turbine gehört zum bisher noch erlesenen Kreis der Zeitfahrräder, die mit Scheibenbremsen ausgestattet sind. Die sich im Roadbike-Bereich zunehmend flächendeckend durchsetzende Scheibenbremse wurde 2016 erstmals vom kleinen US-Hersteller Parlee an einem Zeitfahrrad verbaut. Andere Marken folgten, darunter auch Wilier.

Die Basis für diesen Schritt in das neue TT-Bike-Zeitalter ist der komplett neu entwickelte Rahmen des Turbine, der nichts mehr mit dem hinsichtlich der Gabelform äußerst futuristischen Vorgänger Twin Blade zu tun hat.  Die Wilier-Konstrukteure wollten ein Zeitfahrrad entwickeln, das die Kombination der fünf Schlüsselanforderungen Aerodynamik, ein möglichst breiter und einfach zu justierender Einstellungsbereich, sicheres Bremsen, geringes Gewicht und einfacher Transport auf ein neues Niveau hebt.


Das ist Wilier Triestina

Wilier Triestina gehört zur Riege der traditionsreichen italienischen Rahmenbauer. Die Ursprünge liegen im Jahr 1906, als die Firma von Pietro Dal Molin in Bassano del Grappa gegründet wurde.  Direkt  nach dem 2. Weltkrieg wurde Wilier Triestina durch Etappensiege beim Giro  d´Italia zu einer äußerst begehrten Radmarke, bevor 1952 aufgrund der sich veränderten Wirtschaftlage und des Nachfrageverhaltens der Konkurs folgte. 1969 wurde Wilier wieder neu belebt und ist seit den 80er Jahren auf der großen Radsportbühne zurück. 1997 fuhr Italiens Radsportidol Marco Pantani auf einem Wilier Rad zum leider zweifelhaften Alp d´Huez-Rekord.  Der heutige Firmensitz ist in Rosano Veneto, nur wenige Kilometer vom ursprünglichen Gründungsort in Bassano del Grappa entfernt.  Aktuell ist Wilier Triestina Ausrüster des französischen UCI Continental Team Total Direct Énergie.


 

© studio-hoch-27.de/Tobias Burger

 

Der Turbine Rahmen

 

Die Rahmenform wurde auf Basis der Naca-Profile entwickelt, wie sie im  Flugzeugbau bei der Tragflächenentwicklung zum Einsatz kommen. Diese Bauweise ermöglichte neben einer optimalen Aerodynamik auch verbesserte Steifigkeitswerte und zugleich ein möglichst geringes Gewicht. Der nackte Rahmen liegt laut Herstellerangaben bei 1190 g. Die aerodynamische Optimierung fand im Windkanal der Polytechnischen Universität Mailand statt, der u.a. auch gerne von UCI Protour Teams für diverse Aerotests genutzt wird.  

Der Einsatz der Scheibenbrems-Technologie gestattete es den für die Luftwiderstand besonders sensibel reagierenden Bereich des Steuerrohrs und der Gabel komplett neu zu gestalten. Herausgekommen ist eine 100%ige Eigenentwicklung, die Gabel, Steuerrohr und den Vorbau inkl. des Basislenkers in einer Einheit vereint. Durch die fehlenden Felgenbremsen konnte der Abstand zwischen Gabel und Felge deutlich vergrößert werden, um so die Luftturbulenzen in diesem Bereich zu minimieren. Gleiches gilt für die Hinterbaustreben.  Dabei überwiegt laut diverser Tests dieser Aerovorteil gegenüber den Aeronachteilen der Scheibenbremsen.  Angeboten wird der Rahmen in den 3 Größen XS/S, M, L/XL.  Die Stack- und Reach-Maße decken die vergleichbaren Bereiche ab, wie andere Hersteller mit 4 bzw. 5 Größen, allerdings sind die Abstände dazwischen entsprechend größer.

 

Das Setup des Test-Bikes

 

Wir sind das Wilier Turbine in der für 11.000 EUR angebotenen Highend-Variante gefahren, basierend auf Shimanos elektronischer Dura Ace DI2 9180 Gruppe und Mavic Comete Pro Carbon UST DICS Laufrädern, die auf den hauseigenen 25 mm breiten Yksion Pro Tubeless Reifen rollten. 

Hinsichtlich der Profiqualität des Dura Ace-Antriebs an sich braucht man nicht viel Worte verlieren.  Die Besonderheit sind die hydraulischen Bremsen und die mit nur je einem Schaltkopf zu bedienende DI2-Schaltung, die im sogenannten "Syncro-Shift"-Modus programmiert ist und von den an den Bremsgriffen liegenden Schaltern und den Remote-Shiftern an den Profile-Extensions aus bedient wird.

 

© studio-hoch-27.de/Tobias Burger

 

Unser Test

 

>>Die Bilderserie vom Turbine-Test ....

Wir sind das Turbine (Rahmengröße L/XL) über gut vier Wochen im Training (Ausfahrten zwischen 50 und 130 km) gefahren, außerdem wurde die "Wettkampfhärte" in einem Kurzduathlon getestet. Der "Out of the box"-Eindruck: "Sieht jetzt eher klassisch minimalistisch und nicht überladen aus".  Dieser aufgeräumte Eindruck dürfte mit den klaren Linien und der kompletten System-Integration zusammenhängen. Außerdem waren wir im Test ohne das zusätzlich installierbare Trinksystem  und die Oberrohr-Toolbox unterwegs. Die Einstellung an die Körpermaße des Testpiloten (182 cm) ging spielend einfach von statten.  Gut gelungen ist hier die einfache Verstellmöglichkeit der Extension-Neigung. Die Höhe des Aerolenkers kann mittels der reichlich beiliegenden Spacern nach dem individuellen Belieben eingestellt und ausgetestet werden. Durch den mit 76° eher gemäßigten Sitzrohrwinkel und der geraden Sattelstütze lag die Sitzposition im Rahmen des UCI-Reglements.  Alternativ ist mit einer nach vorne gekröpften Stattelstütze auch eine richtig aggressive "American Position" möglich.

Für einen einfachen Transport im Radkoffer (Radtasche) kann der Basislenkern über an der Unterseite sitzende Schrauben superschnell "halbiert" werden.  Die gemachten Setup-Einstellungen bleiben so komplett für den Wiederaufbau erhalten.  

 

Spürbarer Segeleffekt bei seitlicher Anströmung

 

Kommen wir zum Fahrbericht. Das Rad war in allen Situationen auffallend fahrstabil. Insbesondere der Umstand, dass die Laufräder mit Steckachsen im Rahmen fixiert sind, führt zu einem Fahrgefühl wie auf Schienen. Das schon mal bei der klassischen Schnellspanner-Montage vorkommende "Versetzen" des Hinterrads bei einem harten Antritt ist absolut ausgeschlossen.  Beim Thema Antritt ist auch immer die Frage nach dem Gewicht nicht weit weg. 8,8 kg haben wir gemessen, womit sich das Turbine trotz der schwereren DISC-Bremsen auch vor klassischen TT-Bikes mit Felgenbremsen nicht verstecken muss.  

 

Schalten und Bremsen auf einem neuen Niveau

 

Bei deutlich seitlicher Anströmung wird auch der Slogan "Turn Power into Speed" spürbar. Der Rahmen nimmt in Verbindung mit den 64 mm hohen Mavic Comete Pro Carbon SL UST Laufrädern den "Segeleffekt" gekonnt mit und bleibt dabei auch in der Aeroposition gut steuerbar (etwas Erfahrung im Trilenker-Fahren vorausgesetzt).  Zumal das Schalten liegend auf den Extensions mit den DI2 Remote-Shiftern spielend einfach gelinkt.  Knopfdruck, "Klick", und die Kette wandert millimetergenau auf das nächste Ritzel. Besonders beeindruckend war die Syncro-Shift-Funktion, bei der beim Hoch- bzw. Runterschalten automatisch vom kleinen auf das große Blatt (und umgekehrt) gewechselt wird und gleichzeitig sich ebenso automatisch das Übersetzungsverhältnis am Ritzelpaket dazu anpasst. Diese Einstellung kann an die individuellen Bedürfnisse über die Shimano e-tube App (verfügbar für Android Tablet/Smartphone und Apple iPad/iPhone) angepasst werden.  Die erstmalige Synchronisierung mit der App kann dabei je nach Endgerät und Software-Version etwas knifflig sein.

© studio-hoch-27.de/Tobias Burger

 

Das altbekannte Rennfahrer-Sprichwort "Wer bremst verliert" hat für schnelle Bikesplits durchaus seine Berechtigung und im Rennen wird im Vergleich zum Training durch die abgesperrten und/oder abgesicherten Straßen sowieso deutlich weniger gebremst. Risikobereitschaft hin oder her.  Allerdings ist dies natürlich stark abhängig vom Kursverlauf. Im Training im öffentlichen Straßenverkehr ist hingegen jederzeit die volle Bremsbereitschaft gefordert.  Je schneller man unterwegs ist, desto wichtiger sind hier verlässlich funktionierende Bremsen. Hier ließ die hydraulische Dura Ace-Scheibenbremse keine Wünsche offen. Das über viele Jahre und unzählige Trainingskilometer entwickelte "Bremspunkt" suchen bei Felgenbremsen in Kombination mit Carbonfelgen ist hier plötzlich hinfällig, inklusive der Anbremsproblematik bei Nässe.

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Die Mavic Comete Pro Carbon SL UST Wheels liefen so unauffällig, wie sie designt sind. Nur ein schmaler Streifen in Mavic-Gelb am Felgenprofil und in der Narbe verrät die Herkunft aus dem Haus des französischen Laufradspezialisten. Über den gesamten Testzeitraum rollen die Laufräder defektfrei und auch der Rundlauf war nach Ausfahrten mit einigen ruppig geschotterten Baustellenabschnitten einwandfrei. Auffallend war, dass in den Yksion Pro UST Tubeless Reifen so gut wie keinen Reifendruck verloren ging. Ein Zeichen dafür, dass diese Tubeless-Systemkombination aus Felge und Reifen wirklich passend aufeinander abgestimmt ist. Auch nach einem totalen "Entlüften" der Reifen mittels Daumendruck in den Felgenboden ließen sich die Reifen mit der normalen Standpumpe problemlos wieder aufpumpen (bei schlechtem Fitting ist hier höherer Druck aus dem Kompressor gefragt).

 

Unser Testfazit

 

Der Wehmut war deutlich spürbar, als das Wilier Turbine wieder in den Karton zur Rücksendung über den Brenner  gepackt wurde. Die Ausfahrten hatten allesamt mächtig Spaß bereitet und verführten dazu immer etwas mehr aufs Tempo zu drücken, als die aktuelle Form eigentlich hergab.  Ein Indiz dafür, dass das Turbine wirklich schnell ist, waren trotz des noch niedrigen Jahreskilometerstandes einige persönliche Strava-Segmentbestzeiten auf den Hausrunden.  Was das Thema Scheibenbremse angeht: Auch ich war bisher eigentlich der Ansicht, für eine Vollbremsung mit "Überschlag" reicht auch eine Felgenbremse. Diese Meinung hat sich nicht wirklich verändert, allerdings wird der Bremskomfort mit der Disc unabhängig von den vorherrschenden Bedingungen einfach auf eine andere Stufe gehoben.

© studio-hoch-27.de/Tobias Burger

Das Turbine dürfte vor allem für die Zielgruppe interessant sein, die trotz aller technischen Neuerungen, wie elektronische Schaltung und Scheibenbremsen, auch ein gewisses klassisches und zugleich edles Erscheinungsbild nicht missen wollen. Eben ein Hauch von Italien. Technisch funktionierte während des Testzeitraums alles wirklich tadellos. Wobei man das bei einem 11.000 EUR-Rad natürlich auch erwarten darf. Der Preis,  war es dann auch, der den Wehmut beim Einpacken zumindest etwas abmilderte.  

Wer nun gerne wie Andi Dreitz unterwegs sein möchte, aber bei einem fünfstelligen Preis die Schnappatmung bekommt: Einsteigen kann man beim Turbine ab 7.700 EUR (Shimano Ultegra DI2 8050), ist dann aber mit eher einfachen Miche Syntium WP AXY Laufrädern unterwegs. Das Rahmenset für den individuellen Aufbau liegt bei 5.000.- EUR.

Technische Details

HerstellerWilier Triestina
Modell Turbine - Shimano Dura Ace DI2
Preis 11.000.- EUR
Rahmen Carbon Monocoque 60Ton
Website www.wilier.com
Gabel Wilier Turbine Carbon Monocoque integrated 60Ton
Lenker Basebar: Custom Wilier Carbon (faltbar), Braket Profile Design Aeria Ultimate, F40 Armset + Extension Alloy 35A
Hydration System Profile HSF/Aeria 30 Oz/857 ml (optional)
Sattelstütze Wilier Custum Design Carbon by Ritchey
Sattel San Marco Shot
Schalt- Bremsgriffe Dura Ace DI2 R9160 Extension Shifting
Schaltung Shimano Dura Ace DI2 RD-R9150
Umwerfer Shimano Dura Ace DI2 FD-R9150
Bremsanlage Shimano Dura Ace DI2 Hydro Disc Brake BR-R9170
Bremsscheiben Shimano SM-RT900 140 mm
Kurbelsatz Shimano Dura Ace FC-R9100 53/39
Kasette Shimano Dura Ace 9100 11/25
Trettlager Shimano Pressfit SM-BB92-41B
Laufräder Mavic Comete Pro Carbon SL UST Disc
Reifen Mavic Yksion Pro 25 mm

Fotoserie: Wilier Triestina Turbine