Sebastian Kienle: Die Ironman Weltmeisterschaften in St. George und auf Hawaii sind für mich absolut gleichwertig

Harald Eggebrecht für tri2b.com | 26.04.2022 um 22:00
Sebastian Kienle ist nach den verletzungsbedingten Absagen von Patrick Lange und Jan Frodeno der einzige Ironman Hawaii-Sieger, der am 7. Mai bei der Ironman World Championship in St. George an der Startlinie stehen wird. Wir haben mit Sebi vor seinem Abflug in die USA ausführlich über die anstehende Ironman WM in Utah, über seine Vorbereitung, über die Favoriten, die Wertigkeit der WM und auch dem nahenden Ende seiner so erfolgreichen Karriere als Triathlonprofi gesprochen.

tri2b.com: Aus aktuellem Anlass dürfte eine Frage deine Fans am meisten interessieren. Wie geht es deiner Achillessehne?
Sebastian Kienle (S.K.): Es geht ihr gut genug. Es sind jetzt keine 100 Prozent. Das wird es wahrscheinlich auch nicht mehr werden, solange ich Triathlon auf Profiniveau betreibe. Es war zuletzt aber in einem absolut managebaren Bereich, in dem ich mich leider auch ganz gut auskenne. Ich konnte schon so trainieren, um im Laufen konkurrenzfähig zu sein. Mehr wäre natürlich immer schöner. Aber ich nehme das, was ich kriegen kann und das war im Moment nicht wenig.  

tri2b.com: Ben Hoffman, den du ja sehr gut kennst und der am letzten Sonntag den Ironman Texas gewann, wurde gerade erst auf Instagram von einem Fan nach der Distanz seiner Longjogs gefragt. Er hatte geantwortet, er sei schon ein „alter Mann“ und ein langer Lauf ist bei ihm nur gut 20 Kilometer lang. Wie ist das aktuell bei dir?
S.K.: Am Sonntag vor einer Woche bin ich 30 Kilometer gelaufen und es war tatsächlich mein längster Lauf seit dem September 2019 in der damaligen Kona-Vorbereitung. Der Lauf an sich war gut, wobei das entscheidende ja ist, was danach passiert. Mein Körper hat die Belastung toleriert, was leider in den letzten Jahren nicht immer der Fall war. Meine Rennen im letzten Jahr waren da schon oft mit ganz heißer Nadel gestrickt. Wenn du im Training nicht über 21 oder 22 Kilometer hinauskommst, dann wird so ein Ironman wie in Südafrika hinten raus schon richtig schwer. Einige Zeit konnte ich das durch mein konstant gutes Lauftraining der vergangenen 15 Jahre kompensieren. Aber die Grundlage ist irgendwann auch aufgebraucht. Nach Südafrika konnte ich dann zwei Monate top trainieren und so auch die Basis wieder etwas stärken, bevor es noch mal einen Rückschlag gab, der mich vier Wochen kostete. Aber zuletzt konnte ich auch nochmal ganz gut Kilometer machen. Es ist jetzt definitiv alles im tolerablen Bereich.  

tri2b.com: Du hast leider kein Vorbereitungsrennen in den Beinen. Den Ironman 70.3 Lanzarote musstest du wegen einer Erkältung kurzfristig absagen. Ist die fehlende Wettkampfbelastung ein großes Problem für St. George?
S.K.: Natürlich wäre ein Rennen im Vorfeld von St. George gut für die Wettkampfhärte gewesen. Insbesondere weil durch Corona sowieso etwas die Wettkampfpraxis fehlt. Ich hatte auch noch die Option mit der Challenge Salou. Ich habe mich dann aber gegen einen Start dort entschieden. Es war ganz klar ein Abwiegen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Diesmal habe ich nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopf entschieden und so gegen eine Rennbelastung. Im Vorjahr war das anders, da wollte ich bei einigen Rennen unbedingt starten, obwohl ich nicht richtig fit war. Die Quittung habe ich dann bekommen. Du siehst also, auch ich kann in meinem Alter noch was dazulernen.

tri2b.com: Du kennst St. George und die dortigen Verhältnisse sehr gut durch deine Starts beim Ironman 70.3. Die Strecke hat einiges an Höhenmetern zu bieten. Wie liegt dir das und siehst du dich eher im Vor- oder Nachteil im Vergleich zu deinen Hauptkonkurrenten?
S.K.: Ehrlich gesagt kann ich das gerade ganz schwer einschätzen. In der 2019er Konstellation hätte ich gesagt, es ist für mich ein Vorteil. Jetzt sieht es sicher etwas anders aus. Athleten wie die Norweger Gustav Iden und Kristian Blummenfelt haben extrem starke Unterdistanzleistungen und können an solchen Steigungen auch mal richtig tief gehen und so einfach drüberziehen. Ich freue mich auf jeden Fall, denn die Strecke ist wirklich sehr abwechslungsreich. Ich bin auch den aktuellen Ironman-Kurs vor Jahren schon mal in den Tagen nach einem 70.3 abgefahren. Ohne zu wissen, dass es mal ein WM-Kurs wird. Die Strecke bietet viele taktische Möglichkeiten und es wird für die Zuschauer sicher sehr spannend, wie sich das WM-Rennen entwickeln wird.

tri2b.com: Mit den Vorleistungen zählen u.a. die beiden schon angesprochenen Norweger Gustav Iden und Kristian Blummenfelt als Topfavoriten auf den Sieg. Du hast den begehrten Ironman Weltmeistertitel schon in der Tasche und kannst doch eigentlich locker ins Rennen gehen. Wie sehen deine Ansprüche aus?
S.K.: Es ist schon eine wohl einmalige Situation. Es sind aktuell nur fünf ehemalige Kona-Podiums-Finisher dabei und ich bin nach den Absagen von Jan und Patrick der einzige Hawaii-Sieger, der an der Startlinie stehen wird. In der Tat zähle ich mit meinen Vorleistungen diesmal nicht zu den Favoriten. Das ist eigentlich das erste Mal seit meiner Kona-Premiere im Jahr 2012 der Fall. Selbst damals wurde ich als frischgebackener Ironman 70.3-Weltmeister hoch gehandelt. In all den Jahren waren dann die Ansprüche immer extrem hoch, auch von mir selbst.
Früher konnte ich mich selbst immer ziemlich gut vom Leistungsniveau tippen. Das ist diesmal allerdings anders. Mir fehlt aktuell ein Formtest, wo du schonmal an die sechs Stunden im Ironman-Tempo unterwegs warst. Blummenfelt, Iden und auch Sanders dürften sich von ihrem Training her schon sicher sein, dass sie ganz vorne mitspielen können. Die machen solche Belastungen regelmäßig. Und Sam Long wohl quasi fast täglich (schmunzelt schelmisch).  Wenn ich jetzt Fünfter werde, bzw. nachher sagen kann ich war mit im Geschäft, dann war das sicher kein schlechtes Rennen von mir.

tri2b.com: Wie schätzt du die Wertigkeit der Ironman in St. George ein? Jan Frodeno wurde nach seiner verletzungsbedingten Absage mit den Worten zitiert, „Hawaii steht über allem.
S.K.:  Das hätte ich an Jans Stelle auch so gesagt (lacht). Für mich sind St. George und Kona aktuell absolut gleichwertig. Die Wertigkeit einer WM hängt für mich nicht von der Historie des Veranstaltungsortes, der Anzahl der Austragungen und des Medieninteresses ab. Für mich zählt allein die sportliche Wertigkeit. Mit Iden und Blummenfelt sind die Athleten in St. George dabei, die aus dem Vorjahr die bemerkenswertesten Vorleistungen mitbringen Das gilt auch für Lionel Sanders, Sam Long oder Daniel Baekkegard. Was im Oktober los ist, dass wissen wir jetzt noch nicht. Vielleicht fehlen dort die Norweger, dann hatte St. George die höhere sportliche Wertigkeit. Sind die beiden im Oktober dabei und auch Jan und Patrick kommen dort zurück, dann ist der Kona-Sieg sicher mehr wert. Aber das wird man erst im Herbst beurteilen können.
Außerdem ist es einfach reizvoll, dass der Ironman WM-Titel einmal auf einem anderen Kurs und bei anderen äußeren Bedingungen vergeben wird. Dem einen liegt Hawaii, dem anderen eben nicht. Es gibt halt einfach „horses for courses“. Das ist der große Reiz von St. George.

tri2b.com: Im Herbst 2021 hattest du verkündet, dass 2022 dein letztes Jahr mit Starts bei der Ironman WM ist und du nach der Saison 2023 dann deine Profikarriere beendest. War das in der Vorbereitung zusätzliche Motivation oder schwang schon etwas Wehmut mit?
S.K: Definitiv beides. Es ist ja nicht so, dass ich unbedingt aufhören will. Mein Körper zeigt mir einfach deutlich, dass es nicht mehr viel länger auf diesem Niveau geht und der Zenit einfach erreicht ist. Ich kann nicht viermal im Jahr wegen einer Verletzung in Reha gehen. Das zermürbt dich. In einem Sportlerleben ist es so, dass du bis zu einem gewissen Punkt immer besser wirst. Jetzt ist aber die Phase gekommen, in der ich ganz klar spüre, dass es nicht mehr besser wird. Ich muss sehr viel investieren, um das Niveau überhaupt zu halten. Das ist ein harter Moment, wo man auch ehrlich zu sich selbst sein muss. Das bin ich und das war ich auch immer. Wenn es mal gut läuft, dann sind durchaus noch kleine Verbesserungen drin, aber der Grat zwischen Topform und Verletzung ist immer schmaler geworden. Früher hat mir nach einem harten Training mal was weh getan, am nächsten Tag war es wieder weg. Heute schmerzt immer irgendwo etwas ein bisschen. Einmal überzogen und du kannst für vier Wochen das Lauftraining wieder vergessen. Deshalb ist schon ein gewisser Wehmut da, der einem die eigene Sterblichkeit vor Augen führt.
Kommen wir zur Motivation. Früher war es so, dass ich im Frühjahr nie wirklich in Topform war. Ich kam meist erst im Sommer richtig gut in Schwung und im Oktober war ich dann in Topform. Der Umstand, dass jetzt der Countdown läuft und es vielleicht noch so 600 Tage als Triathlonpro sind, hat es schon einige Male etwas leichter gemacht. Das ist dann schon eine Art Motivationsboost, wenn ein Schwimmtraining mal nicht richtig lief, ich einen schlechten Tag hatte oder ich mir im Training richtig in die Fresse hauen musste.

tri2b.com: Du bist mittlerweile junger Familienvater. Wie sind die Rollen bei dir und Christine aufgeteilt. Stichwort Regeneration und Schlaf?
S.K: Momentan ist es so, dass ich als Triathlonprofi noch der Ernährer der Familie bin und deshalb hier eine Art Freifahrtschein auf Durchschlafen genieße. Christine ist jetzt nicht alleinerziehend, aber sie übernimmt schon sehr viele Aufgaben. Außerdem können wir uns auf einen riesengroßen Family-Support verlassen. In diesem Zusammenhang muss ich unbedingt erwähnen, dass ich einfach nur allergrößten Respekt vor Müttern habe, die neben Kind, Familie und Arbeit auch noch Sport treiben. Das ist eine Leistung, die ist höher zu bewerten als alle meine Siege zusammen. Ich sehe das jetzt was das bedeutet. Ansonsten ist es wirklich auch ein richtiger Motivationsboost, wenn du den Kleinen siehst, wie er die ersten Meter auf dem Laufrad macht, oder einfach ein großes Lachen ertönt, wenn ich den Kopf nach einer langen Radeinheit wieder durch die Tür stecke. Zudem ist die Familie für mich jetzt schon auch ein Grund sich noch mehr anzustrengen. Mein sportlicher Erfolg, den ich in den letzten Jahren hatte, hat uns ein Leben mit gewissen Freiheiten ermöglicht. Dieses Leben würde ich gerne noch etwas weiterführen. Denn jeder der sich im Triathlonsport etwas auskennt weiß, dass die Bezahlung ziemlich leistungsabhängig ist.

tri2b.com: Wie sieht die finale Vorbereitung vor Ort in St. George aus. Wird gemeinsam mit der Gruppe um deinen Coach Philipp Seipp trainiert, oder geht jeder seinen eigenen Weg?
S.K: Wir werden das meiste zusammen machen. Wir sind schon gemeinsam angereist und wohnen in St. George auch zusammen. Philipp Seipp übernimmt viele organisatorische Aufgaben und kümmert sich z.B. um die Einkäufe und die Fahrdienste. Es ist schon wichtig, dass in der stressigen Raceweek jemand da ist, der dir den Rücken freihält und außerdem macht es in der Gruppe zusammen auch viel mehr Spaß. Dazu möchte ich erwähnen, dass gerade Laura Philipp und Flo Angert meiner Meinung nach die heißesten Eisen im Feuer aus deutscher Sicht sind. Leider stehen die Chancen bei den Männern relativ schlecht, dass die mit mir 2014 gestartete deutsche Hawaii-Sieger-Serie sich weiter fortsetzt. Da müsste schon ein kleines Wunder passieren. Aber wenn einer so ein Wunder vollbringen kann, dann ist das wohl ehr Flo Angert als ich selbst. Ich habe ihn häufig im Training gesehen und kann nur sagen das er schon sehr sehr fit ist. Und bei den Frauen ist meiner Meinung Laura die absolute Topfavoritin. Zusammen mit Anne Haug haben wir sicher die momentan besten Frauen am Start. Dieser Umstand macht es für mich irgendwo auch schön, wenn ich jetzt in der finalen Vorbereitung als erfahrender Athlet fungieren kann und noch etwas von meiner Weisheit was die Vorweltmeisterschaftsstimmung angeht, weitergeben kann. Die Funktion des Capitaine de Route nehme ich da sehr gerne an. (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde vor dem bekanntwerden von Laura Philipps Erkrankung veröffentlicht)

tri2b.com: Sebastian, vielen Dank für das Interview. Wir und sicher auch ganz Triathlon-Deutschland drückt dir die Daumen, dass vielleicht doch du selbst die deutsche Siegesserie nochmal fortsetzen kannst.

Bilderserie: Sebastian Kienle und die Ironman World Championship von 2012 - 2019 ...