Evolution der Triathlonräder: 20 Minuten schneller in 20 Jahren - ein Vergleichstest

von Harald Eggebrecht für tri2b.com | 10.09.2015 um 10:09
Höher, schneller, weiter - dieser Grundsatz gilt im Sport und auch im Triathlon - ganz besonders in der Raddisziplin . Wobei "weiter" wohl am besten für die Weiterentwicklung in der Aerodynamik steht. Von Jahr zu Jahr sind die Entwicklungsschritte eher unscheinbar und oft nur im Detail zu erkennen, innerhalb von zwei Jahrzehnten hat sich aber viel getan, wie unser Windkanal-Vergleichstest eines Triathlonbikes aus den 90iger Jahren und eines aktuellen Zeitfahrrades zeigt.

Unsere Testbikes:

 

Villiger 26 Zoll Tribike (Baujahr 1996)

  • runder Stahlrahmen, Campagnolo Shamal Laufräder 26 Zoll, Syntace C2 Trilenker, 10,5 kg
  • mit diesem Rad fuhr tri2b.com-Herausgeber Harald Eggebrecht beim Ironman Hawaii 1997 5:24:31 Std. (151. Radzeit); Sieger Thomas Hellriegel fuhr damals 4:47:57 Std.

 

Müsing Timetrail (Baujahr 2013)

  • aerodynamisch optimierter Zeitfahrrahmen mit integrierten Bremsen, PRO-Trilenker, Zipp 404/808 Laufrädern, bzw. Swissside Hadron 625/800+ Laufrädern, 8,5 kg

 

Testdurchführung:

 

Die Bikes wurden ohne Fahrer und mit Fahrer im GST Windkanal in Immenstaad/Bodensee bei 45 km/h Windgeschwindigkeit und unterschiedlichen Anströmwinkeln (*Yaw-Winkel) getestet. Das Müsing Timetrail wurde zudem beim Test ohne Fahrer mit zwei verschiedenen Laufrad-Setups bestückt. Zuerst mit einem Zipp 404 Vorderrad und einem Zipp 808 Hinterrad, was in der Vergangenheit bei vielen anerkannten Tests als "superschnell" bewertet wurde. Danach kam die Swissside-Variante - Vorderrad Hadron 625 und Hinterrad 800+ - zum Testeinsatz.

 

Testergebnis:

 

Das Villiger 26 Zoll Tribike aus den 90iger Jahren hat erwartungsgemäß deutliche Aerodynamik-Nachteile gegenüber dem aktuellen Zeitfahrmaterial. Am geringsten sind die Unterschiede noch bei direkter Windanströmung von vorne. (was nur bei absoluter Windstille bzw. direktem Wind von vorne passieren kann). Realistischer sind die Werte für eine seitliche Anströmung. Ab einem Yaw-Winkel von ca.4 Grad vergrößert sich einerseits der Windwiderstand des Villiger Rades deutlich, während der Widerstand beim Müsing etwas geringer wird. Bei einem Scott Plasma, das hinsichtlich Aerodynamik zu den derzeit besten am Markt befindlichen Zeitfahrrädern zählt, geht der Widerstand bei stärkerer seitlicher Anströmung sogar noch deutlicher zurück.

Das antiquarische Villiger Rad bietet also bei seitlicher Anströmung, u.a. aufgrund der runden Rohrformen, keinerlei "Segeleffekt, während die neuzeitlichen Triathlonräder-Räder sich den Seitenwind zunutze machen und davon sogar profitieren. In Watt ausgedrückt spart das Müsing Timetrail im Schnitt um die 20 Watt auf das Villiger Rad ein. Ein Scott Plasma spart bei 0 Grad Anströmung weitere 30 Watt ein, bei stärkerer seitlicher Anströmung sind es sogar bis zu 50 Watt.

 

 

Die Laufräder am Müsing, ob Zipp 404/808 oder Swissside 625/800+, haben übrigens so gut wie keine Auswirkung auf den Windwiderstand. Die Widerstandskurve liegt über den kompletten Yaw-Winkelbereich nahezu deckungsgleich übereinander.

 

Praxissimulation:

 

Was bedeuten nun diese im Windkanal festgestellten Werte für die Praxis. Die Aerodynamik-Experten von Swissside haben die ermittelten Aero-Koeffizienten des Bikesetups (Räder, Sitzposition, Helm, Bekleidung) auf die 180 km Raddistanz des Ironman Hawaii hochgerechnet. Mit dem Villiger Rad von 1997 inkl. Badehosen-Setup wäre man bei 250 Watt Durchschnittsleistung in der Simulation 5:10 Std. unterwegs. Mit dem Müsing Rad inkl. Zeitfahrhelm könnte man bei gleicher Leistung bis zu 17 Minuten einsparen (Fahrzeit 4:53 Std.). Ein Profi-Aerosetup, mit dem z.B. Sebastian Kienle und Co. unterwegs sind, wäre nochmals 12 Minuten schneller, was einer Fahrzeit von 4: 41 Std. entsprechen würde.

 

 

Fazit:

 

Mit modernem Radmaterial ist das theoretische Einsparungspotenzial aus Aerodynamik-Vorteilen immens. In der Praxis schaut es allerdings etwas anders aus. So wird die angenommene Aerositzposition auf einer Langdistanz des öfteren verlassen. Auf einem Rennkurs wie in Hawaii zwar kaum wegen der Kurven, dafür umso öfter an den Verpflegungsstellen, da die Hitzebedingungen hier eine umfassendere Versorgung nötig machen, als  bei Rennen unter gemäßigten klimatischen Bedingungen. Ein weiterer Faktor, der besonders bei Agegrouper Athleten stärkere Auswirkungen hat, ist das Verlassen der optimalen Aeroposition aufgrund von Ermüdung. Deshalb würde der im Windkanal errechnete Aerovorteil der aktuellen Zeitfahrräder und des Aeroequipments (Helm, Bekleidung usw.) im Vergleich zum 90iger Jahre-Setup in der Praxis nicht ganz so drastisch ausfallen - deutlich schneller wäre man damit aber ganz bestimmt unterwegs.

 

Swissside versucht aktuell in ihrem Projekt "Instrumented Bike Test" die Wattfresser in der Praxis ausfindig machen. Mehr Infos ...

 

*Yaw-Winkel: Der Winkel zwischen Fahrtrichtung und Anströmrichtung des Windes. Bei sehr hohem Tempo werden niedrige Yaw-Winkel gemessen, da der direkt von vorne einwirkende Fahrtwind im Vergleich zum Seitenwind einen höheren Anteil am Gesamtwiderstand hat. Bei niedrigerem Tempo werden höhere Yaw-Winkel gemessen, da der reine von vorne einwirkende Fahrtwind-Widerstand geringer ausfällt. Deshalb können langsamere Fahrer absolut gesehen sogar deutlich mehr von den aerodynamischen Optimierungsmaßnahmen profitieren, die vor allem bei stärkerer seitlicher Anströmung ihre Wirksamkeit entfalten.