Carbonsohlen im Laufschuh: Bestzeit-Garantie oder Überlastungsgefahr? – eine Einzelstudie
Der Versuchsaufbau
Natürlich handelt es sich bei der folgenden Untersuchung nicht um eine, im sportwissenschaftlichen Sinne, repräsentative Studie. Vielmehr ist es ein erster kleiner Versuch mit den aktuellen Laufschuhen, der zeigen soll, wie groß der Nutzen aber auch die Gefahr von Carbon im Laufschuh sein kann. Als Proband stand uns ein 50-jähriger männlicher Athlet mit 70,1 kg Körpergewicht und 185 cm Körpergröße zur Verfügung. Das Durchschnittstempo im Training liegt beim Probanden zwischen 4:30 min/km bei Intervallen bis zu 6:45 min/km bei langsamen und ruhigen Dauerläufen. Beratend zur Seite stand uns außerdem Prof. Seidel vom Hufeland Klinikum Weimar, sowie die Experten der Schuhorthopädie Tasch.
Gelaufen wurde in unserer Studie auf einem Woodway Laufband unter standardisierten Laborbedingungen mit einer Geschwindigkeit von 15.0 km/h (4:00 min/km). Die Versuchsreihenfolge bestand grundsätzlich aus einer fünfminütigen Einlaufzeit und einer anschließenden 60 Sekunden dauernden Aufnahme der Druckverteilung. Letztere wurde mittels Einlegesohlen gemessen, die in die CEP Laufsocken gezogen wurden und mittels Funksender die Daten an den Auswertelaptop gesendet haben.
Gestartet wurde die Untersuchung barfüßig (nur in Socken). Anschließend wurde der Brooks Hyperion Tempo als schneller Trainingsschuh ohne Carbon als Vergleichsschuh genutzt. Daran reihten sich Adidas Adizero Pro, Asics MetaRacer, Hoka Carbon X, sowie am Ende der Adidas Adizero Adios Pro in die Versuchsreihe ein.
Auswertung und subjektives Empfinden
Wie bereits beschrieben wurde von jedem Modell eine Aufnahme von 60 Sekunden Dauer angefertigt. Aus dieser Sequenz wurde eine Schrittfolge von 10 Sekunden Länge herausgefiltert und mittels Excel-Programm statistisch ausgewertet. Interessant für uns waren hierbei vor allem die Parameter Bodenkontaktzeit, maximale Kraftspitzen (absolut und lokal), Mittelwerte der auftretenden Kräfte pro Schrittzyklus, sowie die gesamte Kraftbelastung vom ersten Bodenkontakt während der Landephase bis zum letzten Bodenkontakt während der Abdruckphase. Sämtliche Daten wurden anhand des Rohdatenprotokolls von 162 Sensoren herausgearbeitet. Diese Sensoren befanden sich zwischen der Fußsohle und der getragenen Socke.
Abschließend wurden die Rohdaten mittels Algorithmus und einem bildgebenden Verfahren in Bilder umgewandelt. So wurde ersichtlich, an welcher Stelle des Fußes sich die höchsten Kraftspitzen befinden. Parallel dazu wurde ein Großteil der Schuhe im Training getestet, um auch das subjektive Empfinden der Carbonschuhe in die Studie einfließen zu lassen. Hierbei darf festgestellt werden, dass alle Modelle zweifelsohne einen subjektiven Vortrieb beim Läufer auslösen. Man hat sprichwörtlich das Gefühl, als verfüge der Schuh über eine Art Vorspannung, die den Läufer nach vorne treiben möchte. Nach längeren Dauerläufen (>10 km Länge) führte das dazu, dass in den folgenden Tagen die subjektive Ermüdung im Bereich der Waden, hinteren Oberschenkelmuskulatur und teilweise auch der Gesäßmuskulatur deutliche Überlastungserscheinungen verursachten.
Die nackten Fakten
Auffällig ist zunächst, dass bei allen getesteten Versuchen die maximal aufgetretene Kraft bei 255 N/cm2 liegt. Das entspricht etwa 26 kg pro Quadratzentimeter. Interessant ist jedoch, dass die Mittelwerte der Kräfte stark variieren.
Druckverteilung Barfuss
So liegen die Werte (in N/cm2) zwischen 75 (barfuß), 89 (Carbon X), 93 (AdizeroAdiosPro), 96 (HyperionTempo), 98 (MetaRacer) und 100 (Adizero Pro). Betrachtet man dies vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Bodenkontaktzeiten, fällt auf, dass diese neue Technologie spürbare Auswirkungen auf den Läufer haben muss. Während die Bodenkontaktzeit beim Barfuß laufen bei 360 ms liegt, wird sie mit abnehmender Dämpfung der Schuhe immer geringer: 234 ms (AdizeroAdiosPro), 227 ms (HyperionTempo), 221 ms (MetaRacer), 218 ms (Carbon X) und 212 ms (Adizero Pro). Die für die Auswertung untersuchte Schrittsequenz ist übrigens bei allen gelaufenen Modellen mit 15 Schritten exakt gleich gewesen. Addiert man jedoch die einzelnen Kraftspitzen während eines Schrittzyklus zusammen, fällt auf, welche gravierenden Unterschiede die einzelnen Modelle verursachen.
Viele Newton pro Quadratzentimeter
Während beim HyperionTempo exakt 529,6 kg bzw. beim Carbon X 586,5 kg auf den menschlichen Fuß während eines Schrittes wirken, liegen die Werte beim AdizeroAdiosPro (643,8 kg), MetaRacer (638,1 kg) und dem AdizeroPro mit 651,9 kg über 23% höher als beim schnellen Trainingsschuh ohne Carbon (Hyperion Tempo). Im Vergleich dazu liegt die Belastung barfuß bei „nur“ 489 kg. Hält man sich zusätzlich vor Augen, dass bei kürzeren Bodenkontaktzeiten es auch zu einer Verschiebung der belastenden Flächen von der Ferse in Richtung Mittelfuß und Vorfuß, sowie speziell den Bereich der Zehengrundgelenke kommt, kann man nur von einer Zunahme von Verletzungen im Hinblick auf Überlastungsschäden ausgehen.
Druckverteilung Adidas Adizero Adios Pro
Druckverteilung Hoka Carbon X
Diskussion, Chancen & Ausblick
Während der vergangenen drei Jahre konnten wir u. a. im Rahmen der großen Laufschuhtest mit den Laufprofis und laufen.de nahezu alle Carbon-Modelle auf dem Markt testen. Unbestritten ist das subjektive Gefühl des Vortriebes. Ob dieses Empfinden auch als technisches Hilfsmittel zu bewerten ist, untersucht neben dem DOSB auch die IAAF derzeit intensiv. Auffällig in unseren Läufen war stets die deutlich spürbare Belastung der Waden- und hinteren Oberschenkelmuskulatur. Sofern man als Läufer über die entsprechende Muskulatur in diesem Bereich verfügt, stellte die neue Entwicklung mit Carbon im Laufschuh keine nennenswerte Gefahr dar. Sollte dies aber nicht der Fall sein, so zeigt es zumindest unsere Versuchsreihe, sollten direkte und weniger gedämpfte Carbonschuhe tatsächlich nur als absolute Ergänzung angesehen werden. Aber auch der maximal gedämpfte AdizeroAdiosPro von Adidas zeigt von der Datenlage her, dass die Belastung auf die Füße und den Rest des Bewegungsapparats deutlich höher ist als bei vergleichbaren Laufschuhen ohne Carbonverstärkung. Gerade der AdizeroAdiosPro führt zu einer kompletten Verschiebung der muskulären Belastung bei Fersenläufern hin zum Mittelfußlaufen. Sollte der Schuh jedoch sehr direkt sein (MetaRacer, Adizero), dann kann es bei fehlender Entlastung durch Regeneration und entsprechende Trainingsplanung zu einem signifikanten Anstieg des Verletzungsrisikos kommen. Ein wenig heraus sticht hierbei der Carbon X. Hoka hat es offensichtlich durch die Bauart der durchgehenden Carbonplatte geschafft, die Aufprallkräfte so zu verteilen, dass sie vergleichbar mit einem schnellen Trainingsschuh ohne Carbon sind. Den Vortrieb merkt man hier allerdings auch deutlich.
Nachhaltig bei 2,85 €/km
Neben den nackten Zahlen kommt noch ein weiterer Fakt hinzu und der nennt sich Nachhaltigkeit. Die meisten Carbonschuhe liegen jenseits von 180 €. Ein Nike Alphafly in der Kipchoge Kenia Edition wird im Internet derzeit sogar ab 350 € aufwärts gehandelt – ab 350 € wohlgemerkt. Nun hatten wir die Gelegenheit, im Herbst den AdizeroAdiosPro testen zu lassen. Nach gelaufenen 70 km brach die Carbonverstrebung im Vorfuß. Gelaufen wurde lediglich auf Asphalt und festem Parkweg. Das macht in Summer 2,85 € pro gelaufenen Kilometer. Eine Empfehlung für Carbonschuhe kann daher momentan nur an eine bestimmte Läufergruppe ausgesprochen werden. Tempo bis max. 5min/km, gute bis sehr gut ausgeprägte Muskulatur, gute Kenntnisse im Bereich Nachbereitung/ Regeneration & Selbstmassage oder einfach die Lust nach ein wenig Luxus und Hightech unter der Fußsohle. Dennoch finden wir die Entwicklung in diesem Bereich gut, denn hin und wieder braucht es auch bei uns im Training einen neuen Trainingsreiz. Auch wenn dieser Reiz nur einmal pro Woche aus dem Schrank geholt werden kann macht es ganz einfach Spaß mit Carbonschuhen schnell zu laufen.
Autor Boris Lehmann
ist seit 2018 Geschäftsführer des Laufladen Erfurt und dort maßgeblich zuständig für die Bereiche Sport und kreative Strategien. Als Sportwissenschaftler & Master der Sportökonomie (MBA) ist er zuständig für die großen Laufschuhtests, Leistungsdiagnostik im Laden, Trainingssteuerung und alles, was mit Wissenschaft und kreativen Ideen zu tun hat. Wenn er nicht im Laden zu finden ist, tüftelt u.a. er als Bergsteiger auf irgendeinem 4.000er Gipfel der Welt über die neuesten Ideen zum Thema Erlebnislauf und Läuferbier. Daneben beschäftigt er sich aber auch mit den alten asiatischen Weisheitslehren des Dhamma nach S.N. Goenka und das am liebsten direkt an den Quellen zwischen Leh Ladakh, Yangoon und Ubud. 2019 hat der Thüringer seine erste Triathlon-Langdistanz beim Ironman Hamburg gefinisht. 2021 ist der Start bei der Challenge Roth geplant.