Kurzmeldung


"Läufermagen": Sensibelchen leistet Schwerstarbeit

von Jens Richter für tri2b.com | 20.03.2004 um 22:07
Nicht selten kapituliert er ausgerechnet am Tag X: Wenn dem Verdauungstrakt schon der normale Trainingsalltag Probleme macht, bringt der Stress eines großen Rennens das Fass buchstäblich zum Überlaufen. Doch mit einem revoltierenden Magen wird ein Triathlon zum Härtetest und alle Marschtabellen zur Makulatur.

Mehr als 5.000 Kilokalorien dürfte ein ambitionierter Triathlet im Frühjahrstraining jeden Tag verbrennen, das Doppelte des Tagesumsatzes eines durchschnittlichen Erwachsenen. Für so viel Energiebereitstellung leistet nicht nur der Magen-Darm-Trakt Außergewöhnliches: Als vor einigen Jahren ein Hotel im Süden von Mallorca neu in den Trainingstourismus einstieg, musste der geschockte Küchenchef bereits zur Wochenmitte das Sonntagsmenü aus den Kühlräumen holen und ersuchte die Sportler um Mäßigung. Da stieß er – natürlich – auf Unverständnis. 

In größter Eile 
Den eigenen, gestressten Verdauungsapparat sollte man dagegen ernster nehmen. Nach einer niederländischen Studie kämpfen 56 Prozent der Triathleten zeitweise oder regelmäßig mit Beschwerden im Magen-Darm-Trakt. In der Befragung von 1000 Ausdauercracks lagen die Laufspezialisten mit über 70 Prozent sogar noch davor. 

Im englischen Sprachraum wurde daher inzwischen der Begriff vom runner’s stomach, dem „Läufermagen“ geprägt. Sodbrennen, Völlegefühl, übermäßige Gasbildung und Durchfall sind die am häufigsten beklagten Symptome. Auch das Reizdarmsyndrom, die Magenschleimhautentzündung und sogar Blutverluste sind bei Ausdauersportlern nicht selten. 

Die größere Menge an Brennstoff kann der Verdauungstrakt des Leistungssportlers nur unter optimalen Arbeitsbedingungen zur Verfügung stellen. Speisebrei und Flüssigkeit werden dafür schlicht schneller verarbeitet: Die Passagezeit, also die Verweildauer der Nahrung zwischen Magen und Enddarm, verkürzt sich beim Ausdauersportler von durchschnittlich 35 auf 24 Stunden und kann sogar noch kürzer werden. Viel Zeit bleibt dem Dickdarm am Schluss also nicht zum Eindicken und Entwässern des Darminhalts. 

Regeln und Routine 
Das Spektrum denkbarer Ursachen von Magen-Darm-Problemen reicht von der Physik über die Physiologie bis in die Psychologie. Ein Problem scheint allein mechanischer Natur zu sein: Schwerkraft und harte Erschütterungen, besonders ausgeprägt beim Laufen, treiben den Darminhalt nach unten. Dort sorgen Druckrezeptoren in der muskulösen Darmwand für kräftige Transportwellen (Peristaltik) Richtung Ausgang. 

Das dabei entstehende Körpergefühl nennen Mediziner einen „imperativen Stuhldrang“ – der Abstecher in die Vegetation duldet nur wenig Aufschub. Gerbstoffe und Koffein in Kaffee oder Tee können die Peristaltik zusätzlich verstärken. Wer bei sich entsprechende Effekte beobachtet, sollte in den letzten Stunden vor dem Training solche Provokatoren meiden. 

Reflexe ausnutzen 
Am liebsten befreit sich der Körper schon vor Belastungen von jedem unnötigem Ballast. Mit einem ausgeklügelten Essens-Zeitplan und guter Selbstbeobachtung wird die obligatorische Packung Papiertaschentücher oft vollkommen überflüssig: In den letzten zwei Stunden vor einem Lauftraining sollte der Magen nicht mit größeren Mahlzeiten belastet werden. 

Und auch nicht durch Milchprodukte (Achtung: eine Milchzucker-Unverträglichkeit ist bei Erwachsenen nicht selten) und blähende Speisen. Dafür kann kurz vor dem Training ein leicht verdaulicher Snack und ein warmes Getränk den Toilettengang gezielt einleiten, unter Ausnutzung des so genannten gastro-kolischen Reflexes. So nennt man die Anregung des Dick- und Enddarms durch Stimulation des Magens. 

Im Stress auf Sparflamme 
Im Rennen oder bei intensiver Trainingsbelastung wird die Durchblutung des Darms massiv gedrosselt. Das Blut wird stattdessen im Sauerstofftransport der arbeitenden Muskulatur benötigt. Komplexere Nahrungsstoffe können dann weder im Zwölffingerdarm aufgespalten, noch von der Dünndarmschleimhaut aufgenommen werden. 

Zeit also für flüssige Kost und leicht Verdauliches. Ballaststoffe und komplexe Eiweiße gehören weder in den letzten 24 Stunden vor noch während eines Rennens in den Diätplan. Im Profi-Radsport greifen darum die Mannschaftsärzte nicht selten zur intravenösen Infusion, um den „Umweg der Nahrung über den Darm“ abzukürzen. 

Eine Frage der Konzentration 
Besonders schwierig wird die Arbeit für den Verdauungstrakt, wenn Nährkonzentrate in zu hoher Konzentration aufgenommen werden. Squeezy oder vergleichbare Produkte ohne die entsprechende Flüssigkeitsmenge (meistens werden 150 bis 200 Milliliter Wasser empfohlen) würden die osmotische Balance zwischen Blutbahn und Darminhalt durcheinander bringen. 

Das kann nur einen Flüssigkeitsstrom in der falschen Richtung verursachen, nämlich in den Darm. Krämpfe und wasserdünner Durchfall (Diarrhoe) wären die Folge. Auch süße, trocken verschluckte Energieriegel haben diesen oft beobachteten Effekt. 

Gut hydriert macht toleranter 
Der Darm nimmt vor allem unter Belastung einen Flüssigkeitsmangel (Dehydratation) ziemlich übel. Ihm dreht der Körper nämlich als erstes den Hahn ab, um die Forderung von Herz und Arbeitsmuskeln nach sauerstoffbeladenem Blut weiter erfüllen zu können. Dann läuft jede Nahrung unverdaut durch Magen und Darm und bringt statt eines Energieschubs nur quälende Diarrhoe. 

„Wenn diese Minderdurchblutung stundenlang andauert, kann die Darmschleimhaut ernstlich Schaden nehmen, sagt der Sportmediziner Dr. Karlheinz Zeilberger aus München und berichtet von Extremfällen, bei denen ganze Darmabschnitte deshalb abstarben – eine lebensbedrohliche Komplikation. Ein Beispiel: die zweimalige Ironman-Siegerin JulieAnne White aus Kanada. Sie hatte sich für den Ironman Hawaii 1993 Siegchancen ausgerechnet und dafür ihre Leistungsgrenzen überschritten. Im Ziel brach sie mit einem Infarkt des Dickdarms zusammen und büßte in einer Not-OP einen Teil davon ein. 

So schlimm geht es selten aus, doch „die Reparaturvorgänge der Darmschleimhaut nach stundenlangen, intensiven Belastungen können Tage, manchmal Wochen andauern“, weiß Zeilberger. Langstrecken-Athleten spüren das oft nach einem harten Rennen. Eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme vor und während des Rennens kann auch die Belastbarkeit des Darms erheblich steigern. 

Vabanque 
Sorgen macht dem Münchener Sportinternisten ein anderes Phänomen: „Viele Sportler nehmen vor den Rennen oder im Trainingslager regelmäßig entzündungshemmendeSchmerzmittel ein, so genannte Antirheumatika (Aspirin, Ibuprofen, Diclofenac). Deren häufigste Nebenwirkung sind Blutungen der Schleimhaut des Darms, zudem hemmen sie die Blutgerinnung. 

Das kann nicht nur einen nervösen Darm, sondern auch Blutarmut und – im Extremfall – lebensgefährliche Massenblutungen verursachen. Eigentlich wollen Athleten mit der Medikamenteneinnahme den Muskel- und Gelenkschmerz beim Laufen reduzieren. 

Spiegel der Seele 
Der Druck im Darm vor schweren Aufgaben wird auch durch die Psyche verstärkt. Fast jeder kennt das Phänomen vor anstehenden Prüfungen oder Wettkämpfen. Kaum ein Athlet könnte vor einem Rennen auf den kurzfristigen Toilettengang verzichten. Um die Startareale großer Wettkämpfe wurden so schon ganze Waldgebiete überdüngt, wenn viel zu kleine Dixi-Siedlungen den Spitzenbelastungen nicht gewachsen waren. 

Bei immerhin 15 Prozent der Sportler mit Darmproblemen – das ermittelten Studien – steigert sich die Nervosität bis zum Reizdarm-Syndrom (irritables Kolon). Dann werden die Darmentleerungen in Stresssituationen übermäßig häufig und krampfartig schmerzhaft. Auch Spannungen im beruflichen oder privaten Umfeld können die Beschwerden triggern. 

Abhilfe kann allerdings ein Medikament bringen, das den Darm beruhigt. Der frei verkäufliche Wirkstoff Loperamid bremst jegliche Peristaltik für mehrere Stunden, wirkt aber gelegentlich ungünstig auf die Fähigkeit, zu schwitzen. Höhere Dosierungen können zudem langdauernde Verstopfung verursachen. 

Eigene Grenzen nur antesten 
Rundkurse haben einen unschätzbaren Vorteil: Die Chemietoiletten-Siedlungen im Start-Areal und an der Strecke werden gleich mehrfach passiert. Andererseits: Im Sport – vielleicht als Folge der Stresshormone – sinkt die Schamschwelle stark ab und halbdurchsichtige Gebüsche oder halbhohe Lavabrocken sind für viele Sportler das geringste Problem. Viel ärgerlicher und frustrierender ist der große Zeitverlust, vielleicht auch die Rennaufgabe, die ein überforderter Magen-Darm-Trakt verursacht. Oft wird die Hälfte der DNF’s großer Rennen mit derartigen Problemen begründet. 

Feste Rhythmen und Gewohnheiten und ein stressfreies Umfeld sind in der Vorbereitung auf den Tag X wichtig für Sportler, die häufig Probleme mit dem Magen bekommen. Die Belastungsgrenze des Verdauungsapparats sollte in der Rennvorbereitung zwar angetestet, aber nicht ständig überschritten werden. Und vermutlich beruhigt eine gute Kenntnis der „Örtlichkeiten“ am Wettkampfort auch den Darm ungemein.