Keine Angst vor hohen Felgen: Bereits ab 15 km/h ist der Windwiderstand der größte Wattfresser

von Harald Eggebrecht für tri2b.com | 23.06.2023 um 15:51
Schaut man bei den großen Langdistanzrennen in die Wechselzone der Pros, dann wird man an den Zeitfahrmaschinen durchgängig Aerolaufräder mit hohen bis sehr hohen Felgenprofilen vorfinden. Weiter hinten im Feld sieht es teilweise noch anders aus und so manche Agegrouperin und Agegrouper träumt insgeheim vom Aerolaufradsatz auf Profiniveau. Wir haben mit Ralf Eggert, Road Marketing Manager beim Schweizer Laufradhersteller DT Swiss, über die wichtigsten Auswahlkriterien gesprochen, die beim Aerolaufradkauf zu beachten und sind dabei auch der Sicherheitsfrage bei windigen Bedingungen und der Alltagstauglichkeit nachgegangen.

tri2b.com: Bei welchen Bedingungen bzw. Geschwindigkeiten profitiert man am meisten von höheren aerodynamisch optimierten Felgenprofilen?
Ralf Eggert (R.E.): Ab 15 km/h Geschwindigkeit ist der Windwiderstand die grösste Kraft, die ein:e Athlet:in zu überwinden hat. Daher gilt es, die Angriffsfläche für den Wind zu minimieren. Die Frontalfläche ist klein zu halten, doch auch das Luftströmungsverhalten an Bike, Equipment und Fahrer/in sollte betrachtet werden. Insofern gibt es viele Faktoren, die in die Beantwortung der Frage hineinspielen. Seit ca. 5 Jahren sind Scheibenbremsen bei UCI-Rennen der Profis an Rädern zugelassen und seitdem hat die Fahrradindustrie Quantensprünge vollzogen. Während also bei den Laufrädern anfänglich Felgenprofile für Felgen- und Scheibenbremsen entwickelt wurden, sind die letzten Iterationen der Aerolaufräder allein für Scheibenbremstechnologie ausgelegt. Dies ermöglichte, in enger Zusammenarbeit mit Rahmenherstellern (Reifenhersteller im weiteren Sinne eingeschlossen), Felgenprofile, die aerodynamisch und fahrtechnisch Weiterentwicklungen sind. Ein Teil der aerodynamischen Entwicklung ist auch der vortriebserzeugende Segeleffekt bei Seitenwindanströmung, der jedoch möglichst wenig Einfluss auf das Handling der Laufräder und des Rades haben soll. Dennoch sind Laufräder die einzigen Komponenten an einem Bike (inkl. Fahrer:in), welche Vortrieb, bzw. einen negativen Windwiderstand bei bestimmten Bedingungen erzeugen können. Beim Fahren ist dies spürbar (auch auf dem GPS ablesbar). Mit aerodynamisch optimierten Felgen können höhere Geschwindigkeiten erreicht werden, besonders wenn die Aeroposition nicht verlassen werden muss. Für uns bedeutet aerodynamische Optimierung auch ein vorhersehbares Lenkverhalten (messbar über den sogenannten Steering Moment auf dem Vorderrad, übertragen auf die Lenkung), sodass sich die Fahrer:in auch bei unvorhersehbaren Windeinflüssen nicht unsicher fühlt und die Aeroposition nicht verlassen muss – was ein Nachteil wäre. Ich erreiche also das Ziel schneller. Doch: treten muss jede:r noch selbst.

Der berühmte Segeleffekt: Bei verstärkter seitlicher Anströmung (+-15 YAW ° erzeugen die ARC 1100 DICUT 62/80 einen negativen Windwiderstand - © DT Swiss AG

tri2b.com: Die Range der Aerolaufräder reicht von 35 mm Bauhöhe bis über 80 mm. Anders als Profis werden sich die meisten Hobbyathleten auf ein Setup beschränken müssen. Was ist die beste Empfehlung für einen möglichst breiten Einsatzbereich?
R.E.: Bei DT Swiss sind alle Carbon-Roadlaufräder ab einer Felgenhöhe von 35 mm aerooptimiert, somit findest jede:r Fahrer:in einen Laufradsatz, der zum Nutzungsverhalten passt. Allerdings sind die höchsten Felgen auch die aerodynamischsten (ab 62 mm können wir bei bestimmten seitlichen Anströmwinkeln diesen vorgenannten Segeleffekt mit negativen Luftwiderständen erreichen). Während also die Profiathlet:innnen aus verschiedenen Felgenhöhen von 50 bis 80 mm (vorn) und 50 bis 80 mm + ARC DISC (hinten) das auf die Bedingungen angepasste Setup zusammenstellen können, spielen Budgetüberlegungen eine andere grosse Rolle. Für den Triathlon ist daher eine Kombination von 62 mm (vorn) und 80 mm (hinten) eine gängige und sinnvolle Wahl. Grund: der Einfluss von Seitenwinden oder extremeren Wetterbedingungen auf das Hinterrad ist aufgrund von mehr Turbulenzen und Gewicht auf dem Sattel des Rades vernachlässigbar, das Vorderrad in der Version ARC 1100/1400 DICUT 62 bietet ein sehr gutes Aero-Gewicht-Verhältnis, welches auch kontrollierbar bleibt. Wer mit einem Strassenrad + Aufsatz (Clip-On) den Triathlon bestreitet, der findet mit 50 mm vorn wie hinten ein breit nutzbares Setup, welches im Training wie auch im Wettkampf gute Dienste leistet und auch optisch den Renner aufwertet. Bin ich jedoch auf der Suche nach der absoluten Aeroperformance, sind hohe Laufräder vorn und eine DISC hinten fast ein Muss (Ausnahmen: Wettkämpfe, bei denen die Hinterradscheibe verboten sind).


Ralf Eggert ist seit 2019 bei DT Swiss als Road Marketing Manager auch für den Triathlon-Bereich zuständig und u.a. bei den Aero-Setupoptierungen der DT Swiss Athletinnen und -Athleten mit involviert. Der gebürtige Hamburger kennt den Triathlon-Sport durch seine erfolgreiche Profikarriere aus dem Effeff, in der er u.a. zweimal WM-Bronze auf der Kurzdistanz (1994/1995) gewinnen konnte. Auf der Langdistanz wurde Eggert 2001 beim letzten Ironman Europe in Roth Vierter (8:28:24).


 

tri2b .com: Welchen Einfluß hat das Körpergewicht und das fahrerische Können?
R.E.: Leichtere, kleinere Personen werden bei hohen Felgen sicherlich empfindlicher auf stärkere Winde aus verschiedenen Richtungen reagieren als grössere, schwerer Athlet:innen. Während unsere männlichen Pro-Athleten im vergangenen Jahr ausschliesslich die ARC 1100 DICUT 80 Vorder- und Hinterräder fuhren, fiel die Wahl von Anne Haug, über Chelsea Sodaro bis hin zu Daniela Ryf unterschiedlicher kaum aus – vor allem bei den Vorderrädern. Preisfrage: Welche Felgenhöhen fuhren die genannten Athletinnen auf dem Vorderrad beim Ironman Hawaii 2022? (die Auflösung gibt´s am Textende in der Bilderserie)

Als Faustformel gilt: flachere Felgen für leichte Personen, die sich bei extremeren Bedingungen unsicher fühlen; höhere Felgen, wenn ich absolute Aeroperformance suche und auch mehr Erfahrung beim Radfahren unter unterschiedlichen Bedingungen mitbringe.

Welche Auswirkung hat die Felgenhöhe auf das Steering-Moment? © DT Swiss AG

tri2b.com: DT Swiss hat in Zusammenarbeit mit Swiss Side viel am Lenkverhalten bzw. der Steuerbarkeit von Aerolaufrädern optimiert. Wo sind hier die Grenzen?
R.E.: Die sicherste Variante wären flache Aluminiumfelgen. Sie haben den Vorteil, dass sie kaum auf Seitenwinde reagieren und die Athletin/der Athlet die Lenkung fast immer unter Kontrolle hat. Die Suche nach besserer Aerodynamik ist die Suche nach höheren Geschwindigkeiten. Bis Anfang der 2010er Jahre gab es nur wenig Möglichkeiten, mithilfe von Computersimulationen Wetterbedingungen auf Laufrädern (oder Rahmen) nachzustellen und somit diese in der Entwicklung von Produkten zu berücksichtigen. Vielfach basierten die Entwicklungen auf Erfahrungen oder der Idee, die Frontalflächen von Produkten zu minimieren. Bei höheren Felgen konnten Seitenwinde zu extremen Strömungsabrissen mit unkontrollierbarem Einfluss auf die Lenkung führen. CFD-Simulationen (Computational Fluid Dynamics) und die Sammlung von Wetterdaten auf verschiedenen Strecken ermöglichten präzisere Aussagen über tatsächliche Windrichtungen im Laufe eines Rennens.

 

Der Steering Moment: Wieviel Kraft wird bei Seitenwindverhältnissen vom Laufrad auf die Lenkung übertragen - © DT Swiss AG

Diese Erfahrung hatte DT Swiss nicht und wir haben uns mit Swiss Side vor ca. 8 Jahren einen Experten an die Seite geholt, der mit der Erfahrung aus der höchsten Motorsportklasse genau dieses Wissen in den Radsport transformieren konnte. Gemeinsam mit unserem Partner haben wir das AERO+ Konzept erarbeitet, welches neben der Optimierung von translationalem Luftwider- und Rotationsluftwiderstand auch das Lenkverhalten (messbar über den sogenannten Steering Moment - die Kraft, welche von der Felge bei Seitenwindeinfluss auf die Lenkung übertragen wird) und Fahreigenschaften im Bereich des Rollwiderstands berücksichtigt. Ein Entwicklungsziel ist u.a. die Vorhersehbarkeit des Lenkeinflusses bei Seitenwinden, auch bei extremeren Bedingungen. Damit werden auch höhere Carbon-Felgen «fahrbarer» gemacht. Ohne Kontrolle sind keine schnellen Zeiten möglich, denn sobald ich die Aeroposition aufgrund von Unsicherheit verlassen muss, steigt der Luftwiderstand, welchen ich überwinden muss, extrem an und ich muss entweder mehr Kraft auf die Pedale bringen, um die Geschwindigkeit zu halten oder ich werde bei gleicher Kraft langsamer. Im Entwicklungsstadium eines Laufrades entscheidet sich die Form der Felge, besonders wenn das Lenkmoment berücksichtigt werden soll. Lenkmoment und Felgenhöhe sind nicht trennbar, allerdings kann mit dem Felgenprofil Einfluss auf die Stärke des Lenkmoments genommen werden. Ob im Profiradsport oder im Triathlon sollte allen bewusst sein, dass die Hände an den Lenker gehören – erste Regeländerungen zur Verbesserung der Sicherheit bei der Nahrungsaufnahme im Rennen gibt es bereits.

Die Evolution der Felgenprofile: V-Form (link) und U-Form (rechts) - in der Mitte die VU-Form, die aktuell bei DT Swiss zum Einsatz kommt - © DT Swiss AG

tri2b.com: Kommen wir zum Preis. Hier ist die Spanne ebenfalls groß. Was können die hochpreisigen Modelle besser als die Modelle in den Einstiegspreislagen.

Der grösste Unterschied ist bereits beim Ausgangsmaterial zu finden: Aluminium-Laufräder sind günstiger als Carbon-Laufräder. Bei DT Swiss reicht die Spanne von ca. unter 400.- EUR (Alu) bis 2.500.- EUR für Carbon-Aerolaufräder. Nicht nur Entwicklungsarbeit und Einzigartigkeit spielen eine Rolle, viel wichtiger ist in der Produktion die Felgen, der Komponenten, der Aufbau der Laufräder und daraus resultierend die Sicherheit. Zwar fällt bei modernen Carbon-Laufrädern für Scheibenbremsen der potentielle Verschleiss der Bremsflanken weg, doch sicherheitsrelevante Komponenten wie Naben, Speichen und Felgen müssen Bremskräften anders begegnen und eine Vielzahl von «Reifenoptionen» sollte mit den Laufrädern abbildbar sein. Stichworte sind u.a. Tubeless Reifen und die Luftdrücke. Normen und anerkannte Standards helfen, die Sicherheit von den Komponenten und Laufrädern zu verbessern. Mit unserem Know-How aus fast 30 Jahren Erfahrung bei der Speichenproduktion haben wir die DT aerolite II und DT aero comp II Stahlspeichen für die letzte Generation der ARC Aerolaufräder entwickelt: Diese tragen nachweislich positiv zur Aerodyamik bei, sind extrem belastbar und leicht. Und dennoch steht für DT Swiss die Sicherheit ganz oben und wir gehen keine Kompromisse ein. Aus diesem Grund werden alle Laufräder von Hand aufgebaut, egal ob Einstiegsmodell in Alu oder High-End in Carbon. Darüber hinaus bieten wir ein grosses Netz von fast 50 Service Centern und zudem eine Vielzahl von geschulten Händlern weltweit an, welche Laufräder prüfen, «servicen» und ggfs. reparieren können. Die Einfachheit von den Ratchet EXP Naben lässt sogar kleine Servicearbeiten am Freilaufsystem ohne technischen Background und Werkzeug in der eigenen kleinen Werkstatt zu (das gilt ebenso für den Einstiegsbereich mit Aluminium-Laufrädern). Damit gewährleisten wir, dass scheinbar «teure» Laufräder langlebig und somit nachhaltig gefahren werden können. Dadurch relativiert der Preis.

tri2b.com: Aerolaufräder sind immer auch ein Eyecatcher. Wer sein Rad so aufgebaut hat, der will damit möglichst oft auch im Training unterwegs sein. Wie sieht es mit der Alltagstauglichkeit im Vergleich zu normalen „Road-Performance“ Laufrädern aus?
R.E.: Moderne Laufräder mit Scheibenbremsen verschleissen «nur» noch im Bereich der Bremsscheiben/-beläge und der Reifen. Mit Ausnahme der Hinterradscheibe spricht wenig dagegen, die Laufräder nicht auch im Training oder auf dem Weg zur Arbeit zu fahren. Bei Letzterem sollten die Laufräder jedoch bestimmungsgemäss verwendet werden. Carbon-Aerolaufräder (z.B. die ARC Serie) sind für den Gebrauch auf asphaltierten Strassen vorgesehen (ASTM Klasse 1), nicht vorgesehen sind Ausflüge auf Singletrails oder längere Passagen auf unbefestigten Wegen, bei denen auch kleinere Absätze zu überwinden sind. Diese Ansprüche werden durch Laufräder mit einer höheren ASTM Klasse 2 abgedeckt, wie z.B. beim Cyclo Cross (Querfeldein), Gravel oder auch den Serien der Endurance Laufräder. Diese bieten mit 45 mm hohen Felgen Aerodynamik und sind breit genug für 28-34 mm Reifen – eine gute Mischung für Alltag, Training und Wettkampf.