IRONMAN Hawaii 2004: "Man kann nichts vorhersagen"

von Jens Richter für tri2b.com für tri2b.com | 16.10.2004 um 15:55
Fast ein Dutzend Siegkandidaten bei den Männern und eine neue Startregel für die Profis sorgen dafür, dass auch Insider kaum einen Siegertipp wagen vor dem diesjährigen IRONMAN Hawaii ...

Wenige Stunden vor dem Start des 28. IRONMAN Hawaii sind sich die Fachleute nur über eines einig: Angesichts von fast einem Dutzend Sieganwärtern bei den Männern und mindestens fünf im Feld der Frauen ist eine Vorhersage des Rennausgangs kaum möglich. Eine neue Startregel, nach der das Feld der Profis erstmals nicht 50 Meter, sondern 15 Minuten vor dem großen Feld der Amateure auf den 226 Kilometer langen Weg an der Kona Coast geschickt wird, dürfte vor allem im Feld der Damen für eine völlig neue Rennkonstellation sorgen. Für die Braunschweigerin Nina Kraft steigen damit die Chancen auf einen Sieg. Keine Triathletin der Welt war in der abgelaufenen Saison schneller als Kraft auf der vollen Triathlon-Distanz, und die Deutsche ist, so sagt sie selbst, „in der Form meines Lebens“. Im vergangenen Jahr scheiterte ihr dritter, ernsthafter Angriff auf den Lavathron an ihrer Laufleistung. Im Marathon durch die glühenden Lavafelder habe sie „im letzten Jahr das Rennen verloren“, sagt Kraft. Sie hat an ihrem Speed gearbeitet und das Ergebnis ist bekannt: 3:00:54 Stunden für den komplizierten Marathonkurs in Frankfurt, da ist auch Kraft, die sich mit Prognosen in den vergangenen Jahren immer zurückgehalten hatte, optimistisch: „Ich kann 3:05 Stunden auf dieser Strecke laufen“, sagt sie. Zum Liveticker ... Dennoch, ohne die „deutsche Brille“ muss man wohl erneut die Schweizerin Natascha Badmann als große Favoritin bezeichnen. Sie hat sich – wie in den vergangenen Jahren auch – diskret vorbereitet und vor Hawaii kein Rennen über die Originaldistanz bestritten. Und wie immer, überlässt sie Auskünfte über ihre derzeitige Verfassung am liebsten ihrem Trainer und Lebensgefährten Toni Hasler. Der sagt: „Natascha ist noch besser geworden, sie ist stärker als in allen Jahren zuvor.“ Im vergangenen Oktober strauchelte die Eidgenössin in den Marathon - nach einer unglaublich starken Aufholjagd auf dem Rad. Sie verlor die Führung, fiel zurück hinter Kraft und Lori Bowden, aber sie kam zurück. Und entschied in einem echten Psycho-Krimi das Duell gegen die Deutsche erneut für sich. Nur die Kanadierin Bowden war schneller, aber die scheint derzeit außer Form. So rücken Bowdens Landsfrauen Heather Fuhr (Siegerin von 1999) und Lisa Bentley, vor wenigen Wochen Siegerin des IRONMAN Kanada, auf in den Kreis der Podiumskandidatinnen. Dass eine weitere Deutsche eingreift in diesen Kampf, ist zwar nicht hochwahrscheinlich, ausgeschlossen ist es dennoch nicht. Die großartige Siegerin der letzten beiden Ausgaben der Quelle Challenge in Roth, die Darmstädterin Nicole Leder, weiß am besten, was es heißt, ein fast verloren geglaubtes Rennen im Marathon noch einmal zu drehen. Nur eine Frau, die Neuseeländerin Erin Baker, ist in der Geschichte des IRONMAN die 42 Kilometer schneller gelaufen. Das liegt Jahre zurück. „Ich war zweimal 14., da möchte ich jetzt endlich mal unter die Top Ten. Ich habe mich sehr gut vorbereitet“, sagt Leder, aber auf Hawaii „kann man nichts vorhersagen“. Ein ebenso trivialer wie weiser Satz, der in diesem Jahr erst recht für den Ausgang der Männerkonkurrenz gilt. Seit im Jahr 1996 der ehemalige Kurzstreckenspezialist und Hawaii-Neuling Luc van Lierde (BEL) mit einer an Respektlosigkeit nicht zu überbietenden Rennstrategie den Sieg (und den immer noch gültigen Streckenrekord) an sich riss und damit ein ehernes Gesetz des IRONMAN Hawaii brach, das besagt, ohne Erfahrung auf den Strecken Big Islands können man Hawaii nicht gewinnen – seit diesem Tag also weiß man: Sehr wohl kann auch ein Rookie das Rennen machen. Sir Simon Lessing ist ein Rookie. Es ist neun Jahre her, da reiste der mehrfache ITU-Weltmeister nach Kona, um sich den IRONMAN aus der Nähe anzusehen, um herauszufinden, ob das etwas für ihn sei. „Never“, habe er sich nach diesem Tag gesagt. „Aber ich habe meine Meinung geändert.“ Vor wenigen Monaten gewann Lessing sein Debüt über die volle Distanz an der nordamerikanischen Ostküste in Lake Placid in eindrucksvoller Weise. „Ich war in den letzten Jahren etwas frustriert über den Triathlonsport, ich brauchte ein neues Ziel.“ Eine Taktik für den Sieg in Hawaii habe er sich allerdings nicht zurechtgelegt, sagt Lessing: „Ich warte auf das Rennen und werde dann reagieren. Ich bin hier, um zu lernen.“ Über das „Lernen“ weiß der Australier Chris McCormack mehr als die meisten der Favoriten. Der frühere Kurzstreckenweltmeister und Seriensieger des IRONMAN Australien scheiterte in den letzten beiden Jahren auf der Marathonstrecke, hatte sich die Kräfte falsch eingeteilt und bei der Ernährung entscheidende Fehler gemacht. In dieser Saison läuft es für den jungen Vater allerdings perfekt. Nach dem dritten Sieg in Folge Down Under siegte „Macca“ auch in Roth und kommt mit der Empfehlung einer Jahresweltbestzeit (7:57:50 Std.) nach Kona. Kein Dark Horse also, genauso wenig wie der Belgier Luc van Lierde, eben jener Rookie von 1996, der sich nach einer endlosen Serie von Verletzungen und Rennaufgaben in den vergangenen Jahren endlich wieder in Form präsentiert. Für viele, auch für den dreifachen Champ Peter Reid (CAN) sind van Lierde und Lessing die Favoriten. Doch warum nicht Reid selbst? Er, der vor zwei Jahren nach der bittersten Niederlage seiner Karriere zurückkehrte, stärker denn je, der in den drei Disziplinen kaum Schwächen hat und mit seinem eleganten Laufstil das Feld der verbliebenen Favoriten im vergangenen Jahr innerhalb von Minuten zerlegte? Es ist wohl das übliche Understatement, um den Druck nicht zu groß werden zu lassen, in den letzten Stunden vor dem Rennen. Immerhin: „Ich habe sehr viel Energie für das Rennen mitgebracht“, sagte Reid gestern abend auf der Pressekonferenz, und eben deshalb gehört er zum engsten Favoritenkreis. Zum Liveticker ... Dass die irrwitzige „Stagger Rule“, jene Regel, die das Fahren in Zweierreihen auf dem Seitenwind anfälligen Radkurs von Big Island erlaubte, nach einjährigem Versuch wieder aufgehoben wurde, erhöht auch für die Deutschen die Chancen auf den großen Wurf. In einem fairen Rennen könnten die radstarken Normann Stadler (im Vorjahr Vierter), Faris Al-Sultan (Siebter), vielleicht auch Oldie Jürgen Zäck (Sechster) und Talent Timo Bracht (beim „Staggern“ disqualifiziert), mit ihren schon legendären Attacken den amerikanischen und australischen Läufern frühzeitig die Energie aus den Beinen ziehen. Mögliche Verbündete in einer solchen Strategie: der Deutsche Steffen Liebetrau, der Schwede Björn Anderssen oder der Belgier Rutger Beke, der ohne sein Desaster von Frankfurt, wo er nur Platz 51 erreichte, wahrscheinlich ohnehin ganz oben auf der Setzliste stünde. Wer mag da noch eine Prognose wagen?