Muskelanpassung: Die Leistungsgrenze wird vom Gehirn gesteuert (Teil 2)

von S. Kräftner/biestmilch.com für tri2b.com | 08.12.2005 um 18:25
Warum gelingt es den Besten am Ende immer noch eine Schippe draufzulegen? Im Teil 2 zur Muskelanpassung stellen wir Ihnen ein neues Modell vor, mit dem die stark schwankenden Leistungsanforderung der Muskulatur in einem Ausdauerwettkampf erklärbar werden ...

Bei Hobbysportlern sind zum Zeitpunkt der Erschöpfung in der Regel weniger als 30 Prozent aller vorhandenen Muskelfaser-Motoreinheiten aktiv. Austrainierte Elite-Athleten rekrutieren einen größeren Anteil ihrer Muskelfaser-Reserve. Das Maximum übersteigt unter den selben Bedingungen aber offensichtlich dennoch nicht 10 bis 20 Prozent der bei Hobby-Athleten aktivierten Fasern. Es gilt als äußerst unwahrscheinlich, dass bei einer Ausdauerbelastung über die Zeitdauer einer Stunde mehr als 50 Prozent der Muskelfaser-Motorneuronen-Einheiten aktiviert werden. Häufig werden Belastungseinheiten deshalb abgebrochen, weil die Symptome der Atemnot unerträglich werden. Es gibt keinerlei Hinweise, dass zum Zeitpunkt des Leistungsabbruches in irgendeinem Organsystem das Gleichgewicht gefährdet wäre. Das Muskel-Laktat ist niedrig, die Auswurfleistung des Herzens ist submaximal und nichts deutet auf eine Unterversorgung des Muskels mit Sauerstoff hin. Selbst nach einer Sprintbelastung ist der pH-Wert des Blutes selten unter 7,1 und der der Muskeln unter 6,6. Man kann also noch nicht von einem aufgrund von Stoffwechselabbauprodukten sauren Muskel sprechen. Eine drohende Azidose (Übersäuerung) des Stoffwechsels wird immer zuerst über die Atmung kompensiert. Deshalb steigt die Atemfrequenz, Wasserstoffionen, die uns sauer machen, werden abgeatmet. Die Atemnot und die damit verbundenen Empfindungen führen zu einem bewussten Abbruch der Belastung und nicht ein saurer Muskel. Der Gehalt an ATP (Adenosintiphosphat) , einem Maß für die Energiereserve im Skelettmuskel, unterschreitet unter allen denkbaren bisher untersuchten Belastungssituationen selten 50 Prozent der Ruhewerte. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt wie klein die totalen ATP-Speicher im gesamten Muskel sind. Das heißt jedoch, dass die ATP-Konzentrationen unter Belastung eben so streng kontrolliert werden wie in Ruhe. Was wollen diese Beispiele sagen? Bedeuten sie nicht, dass sich alle Organsysteme in einem Zustand des Gleichgewichts (Homeostase) befinden, auch wenn der Körper einen totalen Erschöpfungszustand erlebt, und dass nicht der Muskel das Kommando gibt, die Leistung herunterzufahren? Erholt sich ein gut trainierter Sportler im Ziel deshalb so unglaublich rasch? Wo ist die Leistungsgrenze? Wir sind es gewohnt, den Stoffwechsel und seine Abfallprodukte für Leistungseinbrüche und Versagen im Wettkampf verantwortlich zu machen. Unsere Vorstellungen sind dabei von einem Modell geprägt, das sich gut etabliert hat, obwohl es viele Phänomene, die für sportliche Leistungen charakteristisch sind, nicht erklären kann. Dieses periphere Erklärungsmodell führt die Leistungsgrenze hauptsächlich auf Ereignisse im Muskel zurück. Stoffwechselmetaboliten wie Laktat, der Anstieg des pH-Wertes im Muskel, freie Radikale, Elektrolytverschiebungen oder leere Energiespeicher erzeugen einen Erschöpfungszustand, der zum Leistungseinbruch oder -abbruch führt. Das Modell kann nicht erklären, warum Spitzenausdauersportler ihr Tempo über die letzten 10 bis 20 Prozent der Strecke noch erhöhen können. Eigentlich müssten sich die Abbauprodukte ansammeln und die Leistung abnehmen oder stagnieren.

Anzeige

Das Modell des Schrittmachers Erklärbar wird dieses Phänomen mit dem Schrittmacher-Modell, das den Organismus als komplexes System begreift. Die Regulierung erfolgt über einen Schrittmacher im zentralen Nervensystem (ZNS). Dieser „Pacer“ kalkuliert und gibt das Timing für ein Rennen und die Leistungsgrenze vor. Es werden kontinuierlich alle aus der Peripherie des Körpers kommenden Signale vom arteriellen Sauerstoffpartialdruck, der Sauerstoffsättigung des Gewebes, über den Laktatspiegel, bis hin zum Blutzuckerspiegel verarbeitet und in Echtzeit aktualisiert. Das Ergebnis der Kalkulation wird in die Periphere gesendet. Alle Körperfunktionen werden entsprechend angepasst und dem Schrittmacher zurückgemeldet. Immunsystem, Nervensystem und Hormone nehmen bei der Verarbeitung der Signale aus der Peripherie eine zentrale Stellung ein. Sie integrieren den Signalfluss der verschiedensten Ebenen. So erhält der Schrittmacher kein unsortiertes Signalchaos, sondern ein geordnetes interpretierbares Signalmuster. Verblüffende Studien Eine Studie, die die Kraftentwicklung im Muskel mit den rekrutierten Muskelfaser-Motorneuronen-Einheiten in Bezug setzte, ergab interessante Ergebnisse, die dieses neue Modell der Leistungsregulation unterstützen. Athleten sollten einen Radkurs von 100 km bewältigen. Sie wurden immer wieder aufgefordert 1 bzw. 4 km-Sprints einzubauen. Obwohl die Athleten verbal aufgemuntert wurden, nahm ihre Durchschnittsleistung während der aufeinander folgenden 1km-Sprints kontinuierlich ab. Untersuchungen im Elektromyogramm ergaben eine Abnahme der rekrutierten Muskelfasern. Dies geschah, obwohl ohnehin nur 20 Prozent der Fasern aktiv waren. Die Herzleistung war während der Sprints nahezu ausgereizt. Wahrscheinlich ein Hinweis dafür, dass die Athleten versuchten die Leistung bewusst zu erhöhen. Dennoch sank die Anzahl der für die Leistung rekrutierten aktiven Muskelfasern. Muskelbiopsien ergaben, dass die Kohlenhydratspeicher im Muskel um 80 Prozent gesunken waren, obwohl immer nur maximal 20 Prozent der Fasern aktiv waren. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass es zu einer Modulation der Muskelaktivität kommt, das heißt, das nicht immer die gleichen Fasern arbeiten müssen. Offensichtlich wird hier über den Schrittmacher im ZNS gesteuert, welche und wie viele Muskeleinheiten aktiviert werden. Eine andere Studie unterstützt diese Annahmen. In einem Radkurs über die Dauer von 60 Minuten wurden 6 Sprints eingebaut. Bei Sprint 1 bis 5 kam es zu einem durchschnittlichen Leistungsabfall. Bei Sprint 6 in der letzten Minute vor Ende des Radkurses konnte bei allen beteiligten Athleten ein Anstieg der Kraftentwicklung im Muskel gemessen werden. Wäre die Ursache für den Leistungsabfall eine Entleerung der Kohlenhydratspeicher oder eine Anhäufung von Stoffwechselprodukten, dann wäre eine Steigerung im letzten Sprint wohl nicht möglich gewesen. Auch die subjektive Einschätzung des Erschöpfungsgrades wurde erhoben. Auf einer Skala von 0-20 rangierten die ersten 5 Sprint trotz der Aufmunterung, das Letzte zu geben, bei 14 und der letzte bei 18. Das könnte bedeuten, dass das Wissen darum, dass man 60 Minuten würde durchhalten müssen, unbewusst dazu führte, eine Kraftreserve beizubehalten. Athleten können folglich ihre „Pacing-Strategie“ extrem sensibel variieren (innerhalb eines Wettkampfes und von Wettkampf zu Wettkampf). Das gewählte Tempo und die eingesetzte Kraft werden im Schrittmacherzentrum berechnet und bauen Erfahrung, Training und den erwarteten Endpunkt des Wettkampfes mit ein, aber auch die im Muskel angehäuften Stoffwechselabbauprodukte und den Zustand der Energiespeicher. Veränderung der Pacing-Strategie bis hin zum Abbruch des Wettkampfes sind Teil einer komplexen Regulationsstrategie, die dynamisch erfolgt und letztlich dazu führt, unter allen Umständen das Überleben zu sichern. Die Wahl der Schrittmacher-Strategie erfolgt unbewusst und wird ständig überprüft und dem Input entsprechend neu berechnet. Natürlich wird eine geschwächte Muskelfunktion ebenfalls berücksichtigt. Das Muster aktiver Muskelfasern verändert sich je nach Signal-output des Schrittmachers. Der optimal eingestellte „Pacer“ gewinnt Dieses neue Modell kann ein fundamentales Charakteristikum des Leistungssports beschreiben: Die rasche Anpassung an unterschiedliche Wettkampfsituationen und den raschen Tempowechsel während Belastungen von ganz unterschiedlicher Intensität und Dauer. Zudem wird deutlich, wie wichtig Erfahrung ist, wie bedeutend es ist, Trainingssituationen und Trainingsreize zu verändern oder welche zentrale Stellung die mentale Komponente der Konzentration einnimmt, die im Training oft vernachlässigt wird. Fleißig Kilometer sammeln genügt nicht um zu siegen. Umso optimaler der Pacer eingestellt ist und sozusagen ahnen kann, was auf ihn zukommt, desto optimaler das Wettkampftiming und die Siegeschancen. Auch der Pacer sollte bei der Konzeption des Trainings berücksichtigt werden.