Regeneration: Viel beschworen, wenig erforscht (Teil 1)

von S. Kräftner/biestmilch.com für tri2b.com | 16.12.2005 um 07:17
Heute ist Ruhetag. Ein Satz den jeder Ausdauersportler kennt und sicher schon x-mal verwendet hat, dessen trainingsmethodische Bedeutung aber äußerst schwer erklärbar ist. Denn Regenerationsvorgänge sind sehr komplex und individuell verschieden ...

Sie ermahnen sich wahrscheinlich ebenso häufig selbst zur Ruhe, wie das Ihr Trainer tut. Sie halten die Ruhephasen schlecht aus und neigen dazu, zu früh mit dem Training wieder loszulegen. Und Sie haben Schuldgefühle, wenn Sie nicht trainieren. Aber wie soll man die eigene Regenerationszeit verlässlich beurteilen? Oder welche Kriterien soll man für sich auswählen, um die Entscheidung für Ruhephasen rational und guten Gewissens fällen zu können? Bleibt es nicht meist ein Bauchgefühl, das natürlich auch sehr trügerisch sein kann, welches das Kommando zum Loslegen gibt? Regeneration ist wahrscheinlich einer in der Welt des Sportes am häufigsten verwendeten Begriffe und einer der vielleicht diffusesten. Es ist ein für die Forschung extrem schwer zu fassendes Gebiet, weil der exakt definierte Startpunkt für die Messungen fehlt. Studien fokussieren Ausschnitte des Problems und beobachten Athleten, die sich nur sehr oberflächlich ähneln. Dabei werden Athleten ausgewählt, die von Alter, Geschlecht, Sportart, Diät, Trainingsumfang, Trainingsintensität und -dauer sowie der Dauer der sportlichen Karriere und vom Leistungsniveau möglichst homogen erscheinen. Diese Gruppe erhält dann einen Trainingsplan und eine Diät und wird über einen bestimmten Zeitraum - der meist zu kurz ist - untersucht. Während dieser Zeit werden je nach Fragestellung relativ beliebig Parameter gemessen, meist in einen linearen Zusammenhang gebracht und statistisch ausgewertet. Der Körper lässt sich schwer in Formel pressen Der Körper ist aber kein Ding, das linear-kausal funktioniert. Die Newton'sche Mechanik von actio = reactio lässt sich auf unseren Organismus nur schwer übertragen. Er besteht hingegen aus einem Netz vieler interagierender positiv und negativ gekoppelter Regelkreise, die das lebensnotwendige dynamische Gleichgewicht (Homöostase) aufrecht erhalten. Wir wissen heute noch sehr wenig darüber, welche Ausgangsparameter übereinstimmen müssten, um Daten zu erheben - die Frage nach der Art der Daten schließt sich natürlich umgehend an - die vergleichbar und deshalb auch auf den Einzelnen übertragbar sind. Zum Einen ist deshalb die individuelle Komponente des Themas Regeneration extrem hoch und zum Zweiten die Suche nach Denkmodellen, die der Komplexität der Prozesse gerecht werden und somit die vorhandenen Daten entsprechend rechnen und interpretieren extrem schwierig. Aus diesem Dilemma ergibt sich notgedrungen die Tatsache, dass die unzähligen Studien, die zur Regeneration durchgeführt wurden, sehr widersprüchliche Ergebnisse aufweisen. Dies ist deshalb wichtig zu erwähnen, weil viele Nahrungsergänzungsmittel vor allem zur Verbesserung der Regeneration angeboten werden. Ob Kreatin, Carnitin, Glutamin, Proteine, Aminosäuren, Radikalfänger etc. - für alle gilt das Gleiche: dem einen hat es etwas gebracht, dem anderen nicht. Die Studienresultate sind dementsprechend wenig eindeutig*.

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Offene Fragen Trotz der vielen bereits durchgeführten Studien sind folgende Fragen nach wie vor nicht eindeutig zu beantworten: Wie definiert man Regeneration? Gibt es objektive Beurteilungskriterien? Bemerkt man eine unzureichende Regeneration erst dann, wenn es zu spät ist, wenn also die Verletzung, die Infektion, das Leistungstief schon da sind? Wann gilt ein Organismus als regeneriert? Wie erfasst man den Ausgangszustand für die Messung bzw. Beurteilung des Regenerationsverlaufes? Wird allein der Muskel als Kriterium herangezogen? Viele Fragen, die schnell klar machen, wo das Problem liegt. Regeneration umfasst den Zustand des gesamten Organismus. Demnach ist Regeneration Teil des Anpassungsprozesses an veränderte Anforderungen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich einmal damit, dass man Training nicht nur als eine Aktivphase definieren sollte, sondern versuchen sollte, die Regenerationszeit ebenfalls als aktiven Teil des Trainings zu sehen. Denn in der Regenerationszeit werden die gesetzten Trainingsreize in Anpassungsprozesse auf dem Weg zu einem höheren Leistungsniveau umgesetzt. Ich möchte die Regenerationsprozesse in Muskeln, Sehnen, und Gehirn kurz beleuchten. Heilungsprozesse fordern Phasen der Ruhe Muskel, Sehnen, Bindegewebe, Gefäße und Nervenzellen bilden die zentrale Einheit, die für einen koordinierten, schmerzfreien Bewegungsablauf erforderlich ist. Regenerations- und Anpassungsprozesse laufen in jeder Komponente dieser funktionellen Einheit ab. Schmerzen und Entzündungsprozesse aufgrund von Überbelastung bzw. mangelnder Regeneration können ebenso von jedem der Bestandteile ausgehen. Es ist allgemein bekannt, dass Ausdauerbelastungen immer mit Mikroverletzungen in Muskeln, Sehnen, Bindegewebe und kleinsten Blutgefäßen einhergehen. Diese Minischäden sind eine der Voraussetzungen für die Anpassung des Muskels an ein höheres Leistungsniveau. Die Verletzungen können nur die Muskelzellmembranen, einzelne Fasern oder ganze Faserbündel betreffen. Entsprechend unterschiedlich ausgeprägt sind die damit verbundenen Muskelschmerzen. Im Bereich der Sehnen kommt es ebenfalls zu Faserrissen und auch das Bindegewebe ist betroffen. Kleinste Blutgefäße können reißen. Die Ursachen für diese Mikroschäden sind nicht nur auf mechanische Kräfteeinwirkungen zurückzuführen, sondern Temperaturanstieg bzw. -abfall im Gewebe, Durchblutungsstörungen, pH-Wertverschiebungen, Anflutung freier Sauerstoffradikale oder/und mangelnde Energiebereitstellung beeinflussen ebenfalls das Ausmaß des unumgänglichen Muskelschadens. Das Ergebnis aller dieser Einflüsse sind Verletzungen, die so winzig sein können, dass Sie als Athlet gar nichts davon spüren oder aber so ausgeprägt, dass tiefe nachhaltige Muskelschmerzen auftreten. Typisch ist in solchen Fällen ein extremer Anstieg der Kreatinkinase und des Myoglobins. Jede Verletzung, gleichgültig wo im Organismus sie auftritt, löst einen Entzündungsprozess aus. Entzündungen sind die generelle Strategie des Organismus mit störenden Einflüssen fertig zu werden und die Heilung einzuleiten. Damit ist das Immunsystem als System, das die Entzündung auslöst, katalysiert und zur Heilung bringt, gefordert. Immunzellen wandern in den Muskel ein. Lösliche Botenmoleküle wie Zytokine werden von Muskelzellen und Immunzellen freigesetzt und kontrollieren den Entzündungsprozess, das heißt, sowohl Start- als auch Stopp-Signale werden vom Immunsystem erzeugt und steuern den Prozess in Richtung Heilung. Ein intaktes Immunsystem bringt die Mikroverletzungen innerhalb von drei bis fünf Tagen zur Ausheilung. Wenn Mikroverletzungen aufgrund eines geschwächten Immunsystems oder wegen mangelnder Regenerationszeit nicht ausheilen, kann es zu einem Muskelriss oder Sehnenverletzungen kommen. Verzögerte Heilungsprozesse oder Verletzungsanfälligkeit können hier ihre Ursachen haben. Jede Form von Entzündung im Körper fordert ihren Tribut, indem sie Energie konsumiert und konsequenterweise zu einem Leistungseinbruch führen muss. Da nie alle Muskelfasern aktiviert werden, neueste Studien sprechen von maximal 50 Prozent bei Hochleistungssportlern, toleriert der Muskel Überbelastungen relativ lange. Es werden nach einer Art Rotationsprinzip unterschiedliche Fasern aktiviert. Auch während ein und desselben Belastungszyklus wechselt das aktivierte Fasermuster. So finden Teile des Muskels immer wieder Zeit zur Regeneration, auch wenn man dem Muskel an sich diese Zeit nicht gibt. Eine stabile Form braucht Zeit Trainingseinheiten und Wettkämpfe sind Belastungsphasen, die grundsätzlich dadurch gekennzeichnet sind, dass die Abbauvorgänge im Körper im Vordergrund stehen: Kohlenhydratspeicher und Fettspeicher werden angezapft, wenn nötig, wird auch Eiwei? in den Energieträger Glukose umgebaut. Der Stoffwechsel ist katabol, der Cortisolspiegel und die Katecholamine im Blut sind erhöht, die entzündungshemmenden Komponenten des Immunsystems werden aktiviert. Die Phase der Regeneration beginnt mit einer Dominanz der Aufbauprozesse. Der Stoffwechsel wird anabol. Jetzt steht genügend Energie für die Proteinsynthese und damit für den Muskelaufbau zur Verfügung, der das eigentliche Ziel der Trainingsanstrengung ist. Sexualhormone, Insulin und Wachstumshormone sind starke Aufbauhormone (Anabolika). Auch auf der Zellebene verändert sich die Lage. Zum Entzündungsreiz gesellt sich ein Stoffwechselreiz. In der Zelle und ihrer Umgebung werden Wachstumsfaktoren (IGF-1) und Zytokine (IL-6) aktiv, die die Proteinsynthese fördern. Der mechanische Reiz der Bewegung wird in biochemische Reize übersetzt. Wunder Natur – die Belastungsanpassung des Körpers Damit diese großartige Übersetzungsleistung erfolgen kann, müssen Sehnen, Bindegewebe, Muskeln, die Zellen und ihre Umgebung perfekt zusammenarbeiten. Angestoßen durch die Bewegung werden biochemische Signalketten ausgelöst und die Anpassungsprozesse initiiert. Die Muskelzelle und ihr Milieu erhalten so Signalmuster zum Aufbau, Umbau und zur Vermehrung. Skelettmuskel, Sehnen und das den Muskel ebenso wie die Sehnen umgebende Bindegewebe bilden eine lebendige Einheit, die einem ständigen Proteinauf- und -abbau unterliegen. Sie besitzen eine extrem große Fähigkeit ihre Struktur und Funktion an steigende Anforderungen anzupassen. Muskelfasern vermehren sich und werden dicker, die Bindegewebefasern nehmen zu, werden optimaler vernetzt und gewinnen an Festigkeit. Die Zahl der Mitochondrien in der Muskelzelle nimmt zu, Puffersysteme zum Schutz der Zelle gegenüber freien Radikalen erhöhen ihre Kapazität. Auch die Gefäße wachsen mit. Ein feines, aber dichtes Gefäßnetz durchzieht den gesunden Muskel mit enormer Anpassungsfähigkeit des Blutflusses an die Anforderungen und garantiert damit eine optimale Sauerstoff- und Energieversorgung. Das alles kann das lohnende Ergebnis eines Trainings mit einem optimalen Wechsel zwischen Belastung und Regeneration sein: Steigerung der Muskelkraft, Zunahme der Schnelligkeit und Ausdauer des Muskels sowie eine Verbesserung der Energieverwertung. Im zweiten Teil des Beitrages zur Regeneration steht unsere Gehirn- bzw. mentale Leistung, die für den Abruf einer Höchstleistung ebenso wichtig ist wie der Bewegungsapparat oder die Stoffwechselprozesse. *Persönliche Anmerkung: Hier steht nicht die Qualität von Studien an sich zur Debatte. Das wäre ein eigenes Thema. An dieser Stelle geht es nur darum zu erwähnen, wie problematisch die Durchführung solcher Studien generell ist.